Debatte nach Laura Dahlmeiers Todesfall: Sind Bergsteiger Hasardeure? | ABC-Z

Der Gipfel war in greifbarer Nähe. Keine 300 Höhenmeter fehlten bis zum höchsten Punkte. Und doch trafen Laura Dahlmeier und Marina Krauß am vergangenen Montag die Entscheidung, ihren Aufstieg nicht fortzusetzen. Zu gefährlich schienen ihnen die Verhältnisse, schilderte Marina Krauß am Donnerstag die Lage vier Tage zuvor am Laila Peak in der pakistanischen Baltoro-Region.
Die Einschätzung der jungen Frauen war richtig. Und dennoch geschah beim Rückweg, was sie hatten verhindern wollen: Beim Abseilen traf Laura Dahlmeier ein großer Stein. Die zweimalige Olympiasiegerin im Biathlon war vermutlich sofort tot. So schätzt es Marina Krauß ein, die sich wenig vorher abgeseilt hatte. Sie überlebte unverletzt.
Nach Unfällen gibt es Kritik
Bergsteiger und das Bergsteigen lösen bei Beobachtern unterschiedliche Reaktionen aus. Von Staunen und Bewunderung bis zu wüsten Beschimpfungen und Respektlosigkeit gegenüber Verunglückten und deren Familien reicht das Spektrum. Seit Menschen auf Berge steigen, ist das so. Geht alles gut, erreichen die Bergsportler ihre Ziele, ohne dass jemand zu Schaden kommt, dann werden sie gefeiert, bejubelt.
Bei Unfällen fällt die Resonanz ganz anders aus. Von selbstmörderischem Verhalten ist mitunter die Rede; unverantwortlich sei das Treiben am Berg; Bergsteigerinnen und Bergsteiger seien Draufgänger, die unkalkulierbare Risiken eingingen. „Ob manche“, hieß es in einem Kommentar zu einem Artikel – „absichtlich diesen letzten Aufstieg versuchen, um nie zurückzukehren?“
Wer mit Bergsportlern spricht, die wie Laura Dahlmeier ein hohes Niveau erreicht haben, kann diese Frage mit Nein beantworten. Natürlich steigen diese Menschen nicht auf Berge, um den Tod zu finden. Bergsteiger, die extreme Schwierigkeitsgrade in Angriff nehmen, tun das mit Vernunft und Vorsicht, mit einer großen Verantwortung für sich und das Leben der anderen in der Seilschaft.
Sie kennen die Gefahren und Risiken. Sie sind sehr reflektiert, keine Hasardeure. „Wir gehen dorthin, wo wir sterben könnten, um nicht zu sterben“, sagt Bergsteigerlegende Reinhold Messner immer wieder. Aber auch Messner, der dem Klettersport und dem modernen Höhenbergsteigen durch seine Gedanken und Leistungen – als Alpinist von den sechziger bis zu den neunziger Jahren – wichtige Impulse gab, musste erleben, dass Partner am Berg starben.
„Das Risiko maximal gering halten“
Sein Bruder Günther schaffte es 1970 nicht mehr vom Nanga Parbat (8125 Meter) hinunter. Bei der Expedition durch die Südwand des Manaslu erreichte Messner 1972 den Gipfel, zwei andere Bergsteiger, Franz Jäger und Andreas Schlick, starben. Franz Jägers Frau war schwanger. Dass Jäger, während er an einem 8163 Meter hohen Berg in Nepal unterwegs war, Vater eines Sohnes geworden war, erfuhr er nicht.

Später leitete er die Nachwuchsschmiede. David Göttler sagt zu den Gefahren beim Bergsteigen: „Ich setze bei meinen Projekten alles daran, das Risiko maximal gering zu halten.“ Vor etwas mehr als einem Monat stand der 46 Jahre alte Deutsche auf dem Gipfel des Nanga Parbat.
Göttler hatte sich für seinen Aufstieg nicht die Normalroute – sie führt am Nanga-Parbat durch die Diamir-Flanke – vorgenommen. Er stieg durch die Rupal-Wand hinauf. 1970 erreichten auch die Messner-Brüder durch diese Wand auf der Südseite des Berges den Gipfel. Das Basislager liegt dort in nur 3600 Metern Höhe. Es ist das niedrigste Basislager an einem Achttausender.
„Jedes Mal mit etwas mehr Wissen“
Göttlers Erfolg am Nanga Parbat zeigt schon, mit welcher Akribie Bergsteiger sich vorbereiten. Zum ersten Mal war er im Winter 2013/14 am Nanga Parbat. 2021/22 versuchte er es ein weiteres Mal im Winter. Zweimal war er im Sommer dort. Erst der fünfte Versuch führt zum Erfolg. „Jedes Mal“, erzählt er, „ habe ich mir ein bisschen mehr Wissen über den Berg und die Route angeeignet.“ Viermal drehte Göttler um, ohne auch nur in die Nähe des Gipfels gekommen zu sein. Wochenlang hatte er sich auf jede dieser Expeditionen vorbereitet, hatte hart trainiert, um am Berg konditionell bestehen zu können. Aber dann musste doch wieder abreisen.
Wenn die Verhältnisse nicht passen, die Gefahren zu groß sind, falle es ihm leicht, auch ohne Gipfelerfolg umzudrehen, sagt Göttler. Wie 2017 an der Shisha Pangma (8028 Meter). Zweitausend Höhenmeter waren er und der Italiener Hervé Barmasse durch die Wand gestiegen. Nur 13 Stunden hatten sie dafür gebraucht. Eine Fabelzeit. Der Gipfel war greifbar nah. Es fehlten etwas mehr als zwanzig Meter bis zum höchsten Punkt. Eingeblasener Schnee, eine instabile Wechte. Zu gefährlich, um sich von der Versuchung des Gipfels locken zu lassen.

In Gedanken an große Höhen, wo klares Denken aufgrund des Sauerstoffmangels schwerfallen kann, überlegen Bergsteiger schon zu Hause, wie sie in schwierigen Situationen handeln werden. Was aber, wenn die Kraft auszugehen scheint?
In solchen Situationen einzusehen, dass der weitere Aufstieg keinen Sinn mache, sei für ihn am schwierigsten, sagt Göttler: „Beim dritten Versuch am Nanga Parbat habe ich Benjamin Védrines, dem Übermenschen am Berg, den Gipfeltag versaut. Ich fühlte mich nicht gut. Ich habe getrunken, ich habe gegessen. Es wurde nicht besser. Nach drei Stunden haben wir auf der Gipfeletappe abgebrochen. Mit dem Wissen von heute kann ich sagen: Es war die richtige Entscheidung. Ich hätte es nicht geschafft.“
Rettung bedeutet Gefahr für Retter
Weitergehen ist keine Option. „Ich kenne keinen Profi, der damit plant, im Notfall gerettet zu werden“, fügt Göttler hinzu. Freizeitwanderer denken schon mal anders. Hüttenwirte berichten von Gästen, die trotz Warnungen ihren Weg mit dem Hinwies fortsetzten, sie würden kurzerhand die Bergrettung alarmieren, kämen sie nicht mehr weiter, die Kosten übernähme ihre Versicherung.
Dort, wo es Laura Dahlmeier hinzog, gibt es keine organisierte Bergrettung wie in den Alpen. In Nepal ist in den vergangenen Jahren die Rettung per Helikopter deutlich besser geworden. In Pakistan fliegen aber nur Militärhubschrauber ohne Seilwinde und nur in sehr seltenen Fällen mit einem Tau. Aus eigener Erfahrung weiß David Göttler: Muss er gerettet werden, bedeutet das auch immer eine Gefahr für die Retter.

2010 an der Ama Dablam in Nepal mussten Göttler und sein Seilpartner Kyzuya Hiraide einen Notruf absetzen. Sie hatten den Berg überschreiten wollen. Durch die Nordwand rauf, auf dem Normalweg runter. Doch sie blieben stecken, kamen ab einem bestimmten Punkt weder vor noch zurück.
Ein Heli holte erst Göttler vom Berg. Beim Versuch, den Japaner zu retten, stürzte der Hubschrauber ab. Pilot und Assistent starben, der Seilkamerad wurde einen Tag später gerettet. „So etwas möchte ich nie mehr wieder erleben.“ Göttler will, wie es Laura Dahlmeier für sich formulierte, am Berg bleiben, sollte er dort sterben und seine Bergung nur unter Gefahr für andere möglich sein.
Zurück zu Hause werden Bergsteiger mit den Erwartungen von außen konfrontiert. Nicht nur bei Unfällen sind Kritiker und Besserwisser schnell zur Stelle. Auch mit dem Scheitern können Beobachter weit weniger gut umgehen als jene, die es betrifft. Lob fürs Scheitern gibt es selten.
„Erst dann kannst du es schaffen“
Thomas Huber, der gerade zum sechsten Mal am Latok in Pakistan einen Versuch startet und der zu dem internationalen Retter-Team gehörte, das am Dienstag versuchte, Laura Dahlmeier am Laila Peak aus der Wand zu holen, musste lernen, mit seinen eigenen Erwartungen und jenen anderer umzugehen. Er kenne die Stimmen, die sagen: „Der Huber spinnt komplett. Merkt er denn nicht, dass er nicht raufkommt?“, erzählte er es im Frühjahr im Gespräch.
Seine Antwort: „Ich lerne jedes Mal dazu. Eine schwierige Expedition braucht manchmal Jahre. Erst dann kannst du es schaffen. Irgendwann geht die Tür auf, du bist mittendrin, vielleicht auch ganz oben und dann geht die Tür wieder zu. Wichtig dabei ist nur, dass du als Lebender diese Tür wieder verschließt. Das ist dann der Erfolg, und deshalb ist das Nicht-Erreichen eines Gipfels für mich kein Scheitern. Ich bin weiterhin auf dem Weg.“ Seine Erfolgsquote: „Zwanzig Prozent, vielleicht.“

Bis auf wenige Ausnahmen sind diese Spitzenalpinisten überwiegend Männer. Gar nicht so wenige haben Kinder. Alison Hargreaves ließ sich auch als Mutter nicht vom Bergsteigen abhalten. Die Britin kletterte solo durch die Eiger Nordwand, da war sie mit ihrem Sohn Tom im sechsten Monat schwanger. Als Tom vier Jahre alt war, gelang es ihr als Erste, in einer Saison die sechs größten Nordwände der Alpen (Eiger, Grandes Jorasses, Matterhorn, Petit Dru, Piz Badile, Große Zinne) zu durchsteigen.
Und als Tom sechs und seine Schwester Kate vier Jahre alt waren, bestieg Alison Hargreaves 1995 zunächst den Mount Everest (8848 Meter) als erste Frau ohne Sauerstoffflasche und starb wenige Wochen später am K2 (8611 Meter) beim Versuch, die drei höchsten Berge der Welt in einer Saison zu erklimmen.
„Ich habe Reinhold nie vermisst“
Nachfrage bei Simon Messner in Südtirol. Er ist der Sohn von Reinhold Messner. Wie hat er die Abwesenheit seines Vaters erlebt? „Ich habe Reinhold nie vermisst, wenn er auf Expedition unterwegs war. Es hat mich auch nie gestört. Ich habe ihm sehr vertraut.“
Seit sieben Monaten ist Simon Messner selbst Vater. In der ersten Zeit habe er sich nicht vorstellen können, Frau und Kind zu Hause in Südtirol zu lassen. Jetzt aber erkennt er Parallelen zu seinem Vater. „Ich muss mich ausleben können, um ein guter Vater zu sein“, sagt der 35-Jährige, dem 2023 eine bedeutende Erstbegehung in Pakistan gelang.
In wenigen Wochen bricht er wieder nach Pakistan auf, um dort einen hohen Berg auf neuer Route zu besteigen. „Ich darf nicht am Berg sterben. Ich muss heimkommen. Das Umdrehen wird mit Kind einfach. Trotzdem weiß ich, dass immer etwas passieren kann“, sagt er der F.A.Z.: „Mit diesem Widerspruch versuche ich zu leben.“
Welche Konsequenzen ziehen Kletterer und Bergsteiger aus dem Tod von Kollegen, die am Berg gestorben sind? Was treibt sie an, nach schrecklichen Erlebnissen wieder auf Berge zu steigen, schwierige Wände zu klettern? „Die Sehnsucht“, lautet die kurze Antwort von Wolfgang Nairz.
„Die Sehnsucht ist noch immer da“
Der Innsbrucker leitete in den siebziger und achtziger Jahren zahlreiche Expeditionen. 1982 überlebte Nairz in Nepal in der Südwand des Cho Oyu (8188 Meter) knapp einen Eissturz. Reinhard Karl, der erste Deutsche, der es wenige Jahre vorher auf den Gipfel des Mount Everest geschafft hatte, und der mit Nairz im Zelt war, starb. Sie waren gerade dabei, sich fertig zu machen, um zum Gipfel aufzusteigen.
„Ich habe mich lange gefragt, wieso ausgerechnet ich am Leben blieb“, erzählt Nairz. Die Antwort, die er nach vielen Überlegungen fand: „Meine Zeit war nicht abgelaufen.“ Bald schon überwog bei Nairz die Sehnsucht nach den Bergen die Angst vor den Gefahren. Er organisierte neue Expeditionen, reiste nach Nepal zum Dhaulagiri (8167 Meter) und zum Makalu (8485 Meter) und bestieg noch einige Siebentausender.
80 Jahre ist Wolfgang Nairz heute alt. Seinen runden Geburtstag feierte er im vergangenen Jahr im Basislager der Ama Dablam in Nepal. „Die Sehnsucht“, sagt er, „ist noch immer da.“