Paris Paradies von Marjane Satrapi im Kino: Solange du singen kannst | ABC-Z
Der Ensemblefilm ist der Rest eines Traums, dem die Allergrößten im Kino nachgejagt sind. Alfred Hitchcock wollte vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Stadt auf die Leinwand bringen, Andrej Tarkowski den Alltag Moskaus aus der Straßenperspektive erzählen. Geblieben ist das Webmuster einer Geschichte aus vielen Geschichten, die mal mehr, mal weniger verbunden sind – sei es durch Liebe und Betrug wie in Max Ophüls’ Verfilmung von Schnitzlers „Reigen“, sei es durch ein Objekt wie das Barockgemälde in Otar Iosselianis „Die Günstlinge des Mondes“. Geblieben ist auch der Schauplatz, der die Geschichten zusammenhält: die Stadt.
Bei dieser Frage gibt es unter den Ensemblefilmen eine klare Hierarchie. Aus einem breiten Feld von Städten, die nur ab und zu als Spielort dienen wie Berlin in Andreas Dresens „Nachtgestalten“ oder Hongkong bei Wong Kar-wai, ragen zwei Metropolen heraus: Los Angeles und Paris. Die Stadt der Engel ist die ideale Kulisse für das Mosaik der amerikanischen Gesellschaft, in Robert Altmans „Short Cuts“ ebenso wie in „L.A. Crash“, Paul Haggis’ Oscar-Gewinner von 2006. Und Paris? Hier trifft die Geschichte der europäischen Großstadt auf die Tradition ihrer Spiegelung in der Kunst. Die Maler des modernen Lebens arbeiteten an der Seine, und das Kino setzt ihre Arbeit fort, in Jacques Rivettes „Out One“ wie in Eric Rohmers „Rendezvous in Paris“, in Agnès Jaouis „Lust auf anderes“ wie in James Ivorys „Affäre in Paris“. Hitchcocks Vierundzwanzigstundenfilm, würde er je gedreht, müsste rings um den Eiffelturm spielen.
Ein Sarg mit eigenem Mobiltelefon
Marjane Satrapis Film „Paris Paradies“ beginnt auf dem Friedhof Père Lachaise. Der Fernsehjournalist Édouard (André Dussollier) nimmt hier gerade eine neue Folge seiner beliebten Sendereihe über Menschen in Todesgefahr auf, als ihn der Friedhofsdirektor unterbricht: Er müsse ihm etwas zeigen. Er führt den Fernsehmann zu einem Luxussarg, der mit Mobiltelefon, Außenkamera, Getränken und Notrationen ausgestattet ist. Das sei sein eigener, sagt der Direktor, mit dem er für den Fall vorgesorgt habe, dass er nach seinem Tod doch wieder aufwache.
Ebendas passiert im gleichen Moment in einem Pariser Leichenkühlhaus. Giovanna (Monica Bellucci), eine Opernsängerin, öffnet die Augen und blickt ins Dunkle. Um die Panik, die sie in der eisigen Metallbox überfällt, zu überwinden, beginnt sie zu singen. Zum Glück kommt gerade ihr Ehemann, ein Dirigent, in die Morgue, um seine tote Frau zu sehen. Als sie ihn anspricht, fällt er in Ohnmacht.
Die alternde Diva Giovanna ist der geheime Mittelpunkt von „Paris Paradies“, und dass sie von Monica Bellucci gespielt wird, wirkt wie ein Versprechen. Seit ihrem kurzen Auftritt bei James Bond („Spectre“) und ihrer Tour de Force bei Emir Kusturica („On the Milky Road“) hat Bellucci wenig Glück mit ihren Kinorollen gehabt, sodass die Krise ihrer Filmfigur fast wie ein Spiegel ihrer eigenen Situation erscheint. Das vermeintliche Ableben Giovannas, von ihrer Agentin voreilig bekannt gegeben, ist in der Öffentlichkeit so gut wie unbemerkt geblieben, nur der „Parisien“ hat eine kurze Meldung gebracht. Statt eines Comebacks droht der endgültige Absturz in die Depression. In ihrer Not setzt sich Giovanna ans Klavier, doch die Stimme, einst weltweit gefeiert, versagt ihr den Dienst.
So sucht sie Trost im Alkohol und bei ihrer Haushälterin, die mit eigenen familiären Problemen zu kämpfen hat. Man würde gern sehen, wie das Drama sich zuspitzt, aber an diesem Punkt schlägt die Form des Ensemblefilms zu. Es gibt ja noch so viele Geschichten zu erzählen: die des gemobbten Mädchens, das bei einem Selbstmordversuch von einem Triebtäter entführt wird; die des Stuntmans, der am Palais de Chaillot einen riskanten Sprung absolvieren soll, aber durch den Fahrradunfall seines Sohns die Lust an seinem Beruf verliert; die des Maskenbildners, der sich in den Stuntman verliebt; und die des Barmanns, bei dem Giovanna ihren Rotwein trinkt.
Der Film verheddert sich in seinen vielen Fäden
Jede dieser Episoden hat ihr eigenes Gewicht, aber in „Paris Paradies“ geben sie sich nicht gegenseitig Halt wie bei Altman oder Haggis, sondern stehen einander im Weg. Das liegt daran, dass sie weder konsequent verflochten noch durchgängig getrennt sind, sondern sich mal berühren und mal nicht, so wie es der dramaturgische Zufall, der keiner ist, will. Der Film, anders gesagt, füllt die Form, die er gewählt hat, nie wirklich aus, er irrt nur ziellos in ihr herum.
Als André Dussollier wieder auftaucht, weil der Journalist Édouard eine Krebsdiagnose bekommen hat, und die Kamera mit seinem Blick die Spaziergänger am Seine-Ufer betrachtet, findet das Paris-Mosaik für einige Augenblicke zum Schwung seines Anfangs zurück. Aber dann verheddert es sich wieder in den vielen Fäden, die es nie wirklich zusammenbringt, und in der Geschichte des Mädchens, das seinen Entführer durch Dauerreden von der geplanten Bluttat abbringt, vergreift es sich sogar an seiner eigenen Figur.
Marjane Satrapi, die Regisseurin von „Paris Paradies“, ist durch ihre Graphic Novel „Persepolis“ und deren Verfilmung bekannt geworden, und als Comicautorin und Stimme der iranischen Diaspora hat sie nach wie vor den verdienten Erfolg. Aber ihre Liebe zum Kino wird von diesem nicht erwidert, und wenn die verunglückte Horrorkomödie „The Voices“ und das kitschige Marie-Curie-Biopic „Elemente des Lebens“ dafür noch nicht Beweis genug waren, ist es ihr neuester Film. Von den vielen Schicksalen, die er streift, bleibt nur eine vage Erinnerung an das Gesicht von Monica Bellucci im Leichenkühlhaus. Und, natürlich, an die Straßen von Paris.