Paragrafenreiter der Verdammnis: “The Last Will And Testament” von Opeth | ABC-Z
Die letzten Atemzüge. Die letzten Worte. Der letzte Wille. Das Letzte, was sie erwartet haben – für die vermeintlichen Söhne und Erben des tyrannischen, steinherzigen Patriarchen gar das Allerletzte. Das neue Opus “The Last Will And Testament” der schwedischen Metal-Prog-Jazz-Folk-Legende Opeth ist ein Konzeptalbum um eben dieses Familienoberhaupt, das nach dem Ende des 1. Weltkrieges das Zeitliche segnet und in seinem Testament ihnen seinen letzten Willen verkündet.
Dabei offenbart er sinistre Familiengeheimnisse und rechnet so in erster Linie mit sich selber, aber eben auch den einzelnen Angehörigen ab. Er konfrontiert sie alle auf diese Weise in einem letzten Willkürakt mit neuen Realitäten, die sie in den Fundamenten ihres Selbstbildnisses erschüttern. Die vermeintlichen, bis dahin vorgegeben und vorgelebten Wahrheiten und Werte werden als Lügen und Heuchelei entlarvt.
Wände aufbauen und einreißen
Diese vertonte Lebensgeschichte, die sich um den Moment dreht, in dem den Angehörigen das Testament des einstigen Familienoberhauptes eröffnet wird, erinnert an ein Theaterstück im schwermetallischen Gewand. Mit filigranem Streicher- und Mellotron-Einsatz werden erst extrem cineastische Stimmungswände aufgebaut, um sie im nächsten Moment brachial auch wieder einzureißen.
Die Musik verdeutlicht so die emotionale Achterbahnfahrt, die der Familie durch den letzten Auftritt des despotischen Patriarchen in Form des geschriebenen Testaments aufgezwungen wird. Um das Gefühlschaos akustisch zu illustrieren, holt Mastermind, Gitarrist, Songschreiber und Sänger Mikael Akerfeldt seine legendären Growls, diese gutturalen Knurr-Grunz-Bell-Schrei-Laute, die die erste Schaffensphase von Opeth geprägt haben, wieder aus der musikalischen Mottenkiste. 16 Jahre lang, seit dem Album “Watershed”, haben Akerfeld und seine Band, die sich den Namen Opeth dem Buch “Der Sonnenvogel” von Wilbur Smith entnommen hat – da heißt die Stadt auf dem Mond Opet -, diese Growls nicht mehr auf Platte gebannt.
Hausverbot für Einfachheit
Mit dem 2011er-Werk “Heritage” wandte sich Opeth vom komplexen und komplizierten Atmo-Death-Metal sowie den Growls ab – und dem nicht minder kompliziertkomplexen Progrock der 70er Jahre und dem Klargesang zu. Einfachheit hatte im Wirkungskreis von Opeth immer schon Hausverbot. Die Bandmitglieder sind wahre Meister ihrer Instrumente, gerade der neue Drummer Waltteri Väyrynen (zuvor Paradise Lost) verprügelt die Schlagzeugfelle nach allen Regeln der Kunst, unterstreicht mit seinem filigranen, synkopischem Spiel die dichte, oft düstere Atmosphäre der Songs perfekt.
“The Last Will And Testament” besteht aus acht Songs, von denen die ersten sieben ohne echte Titel, sondern dem Testament entsprechend als “§ 1” bis “§ 7” betitelt sind. Opeth, die Paragrafenreiter des menschlichen Abgrundes, der Verdammnis. Wobei in Schweden der Paragraf nicht im juristischen Absatz verstanden wird, sondern als Absatz, neues Kapitel. Das achte Lied – “A Story Never Told” – verändert am Ende den Handlungsstrang noch einmal dramatisch.
Nicht nebenbei hören!
Unterstützt wird Opeth bei diesem, den Hörer in seiner Vielschichtigkeit dauerherausfordernden, Teufelsritt durch Ian Anderson, den Kopf der Progrocker Jethro Tull, der die Songs nicht nur mit seinem charakteristisch-charismatischem Querflöten-Spiel verzaubert, sondern auch als Sprecher Teile des Testaments verliest. Auch Joey Tempest, Sänger der “Final Countdown”-Rocker von Europa, steuert bei einem Lied seine Stimme bei. “The Last Will And Testament”. das 14. Band-Album, ist ein höchst-, aber zum Glück nicht überambitioniertes Werk, das mit jedem Hördurchgang neue Details offenbart.
Es ist ein Werk, das man nicht nebenbei hören kann/darf, dem man sich hingeben muss. Aber die Belohnung für diese 51 Minuten lange Auslieferung an Akerfeldt & Co. sind ein fesselndes, verstörend-betörendes Hörerlebnis von ungemeiner Vielschichtigkeit – und Schönheit.
Opeth: “The Last Will And Testament” (Reigning Phoenix Music/ Warner)