Österreichs Nachkriegsgeschichte: Mythen und Realität – Politik | ABC-Z

Das Breitenbewusstsein aller Nationen liebt es, Geschichte als eine Hüpfpartie von einem mythischen Gipfel zum anderen zu erzählen. Im kollektiven Gedächtnis positionieren sich glänzende Höhen gern so, dass in ihrem Schatten die düsteren Aspekte des Früher nahezu unsichtbar werden, garniert mit ein wenig Heldentum im Handeln der Vorfahren, als, bei aller Aufgeklärtheit, etwas Zucker für den patriotischen Kobold unterm Zwerchfell. Unsere österreichischen Nachbarn sind darin Meister, zumal das Werden und Weben als kleine Republik rückblickend immer ein bisschen wehtut, weil in ihren Knochen der Phantomschmerz des Verlustes imperialer Größe und Bedeutung nagt, der so vieles Nachkaiserliche schon deshalb bitter macht, weil das Kleinsein an sich schon als ungerecht, als Niedertracht der Geschichte gilt.
In seinem Band „Neutralität und Kaiserschmarrn – Eine Geschichte Österreichs seit 1945“, also vom Ende seiner staatslosen Zeit als Teil des Dritten Reiches bis heute, versagt sich György Dalos konsequent Mythenpflege und Pathos. Der ungarische Historiker Dalos mit einer jahrzehntelangen Exilerfahrung in Wien – heute ist er in Berlin zu Hause – zeichnet in dem schmalen, erfreulich flüssig lesbaren Band – welche Historiker schaffen das? – die Dinge verblüffend lakonisch nach. Den netten kleinen Rausch der irgendwie doch beträchtlichen Heldentat im Lauf des Zeitgeistes gönnt er seinen Wahllandsleuten so gut wie nie.
Gängige Klischees lässt der Autor gern links liegen
Seine schlüssige, überraschend knappe Darlegung, wie Österreich in der Dynamik der alliierten Interessen das Teilungsschicksal im Gegensatz zu Deutschland erspart blieb, lässt das gern mystifizierte Zutun der österreichischen Politiker selbst schlichtweg aus. Er benennt auch die zum tragenden Selbstverständnis Österreichs gewordene Neutralität richtig und kühl als eine Auflage der Siegermächte, nicht als Errungenschaft, schon gar nicht durch Österreich selbst kreiert, wiewohl heute sehr wohl identitätsstiftende Säule des Staatsbewusstseins.
Dalos webt einiges Anekdotisches, konkret Szenisches ein, um Ereignisse markant zu umreißen, wobei er all die Klischees, die im Allgemeinbewusstsein nisten, links liegen lässt. Respektlos nennt er auch schon mal Karl Renner, den Gründungsvater der Zweiten Republik, einen Wendehals. Allerdings ist seine Abneigung gegen Mythen so radikal, dass er sich auch der Möglichkeit begibt, sie als Deutungshilfe zu nutzen. So verschweigt er etwa die nicht nur unter Intellektuellen vorherrschende Legende, die Entnazifizierung habe am Anfang deshalb so viele auch vollzogene Todesurteile gegen NS-Schergen erbracht (relativ gesehen viel mehr als in Deutschland, was er freilich nicht erwähnt), weil mit der Exekution der ersten Reihe von Austrias NS-Verbrechern sich die viel größere Masse der Nazitäter der zweiten Reihe der gefährlichsten Zeugen entledigt habe. Im wohl nie endenden Disput um die feige Mythologisierung Österreichs als erstes Opfer Hitler-Deutschlands ein schwerwiegendes, nie bewiesenes, wiewohl beachtenswertes Element.
Dalos bettet die Nachkriegsgeschichte Österreichs intensiv in die der unmittelbaren Nachbarn ein, vertäut sie als ein archetypisch mitteleuropäisches Schicksal. Nur bei den „Sanktionen gegen Österreich“, als die damals restlichen 14 EU-Staaten die Regierung Schüssel mit persönlichem Kontaktboykott belegten, weil dieser als Kanzler die rechtsextremistische FPÖ des Jörg Haider in die Regierung genommen hatte – ein damals wuchtiger Tabubruch, der inzwischen ordentlich Schule gemacht hat – erlaubt sich Dalos den Fehler, das als offiziellen Sanktionsbeschluss dastehen zu lassen. Wiewohl falsch, spielt das jedoch im austriakischen Mythengespinst eine nachhaltige Rolle, das Land werde notorisch ungerecht behandelt. Sonst lässt sich Dalos kaum vorwerfen „verösterreichert“ zu sein, auch wenn er eingangs einmal die Rote Armee im Lande als „Okkupationstruppen“ klassifiziert und damit gedankenlos die fortdauernde Weigerung der österreichischen Volksseele bekräftigt, „die Russen“ je als Befreier vom Nationalsozialismus zu akzeptieren.
Vieles wird nur angedeutet, oft tappen Nichtkenner im Dunklen
Doch für wen hat György Dalos dieses geschichtsträchtige, durchaus süffige Bändchen verfasst? Die Kargheit hie und originelle Anekdotensicherheit dort bündelt einen Abriss österreichischer Nachkriegsgeschichte, eigentlich nur für Leute, die von Mitteleuropa und dessen direkten Befindlichkeiten keinerlei Vorstellung haben. Denn einerseits – auch wenn es paradox klingt – müsste sich die Leserschaft ziemlich gut im Verlauf der Dinge auskennen. Einschneidende Ereignisse handelt er manchmal mit einer Beiläufigkeit ab, dass es schon einiger Sicherheit in Zeitgeschichte bedarf, um die Dinge einordnen, um sie manchmal überhaupt identifizieren zu können. Ein Beispiel: Er reduziert die berüchtigten Benesch-Dekrete im Nachbarland Tschechoslowakei rein auf die Vertriebenenfrage, obwohl sie den quasi staatsbegründenden Charakter einer vorläufigen Verfassung hatten.
Das Gleiche gilt oft auch für Personen. Wiewohl von zentraler Bedeutung für den Augenblick erscheinen sie manchmal nur gleichsam als Fußnote. Ein Beispiel aus Dalos’ Heimat: Da ist der misslungene, von Österreich aktiv mitvereitelte Versuch des 1956 historisch und aktuell bedeutsamen Exilpolitikers Ferenc Nagy in das in einer stürmischen Reformbewegung brodelnde Ungarn heimzukehren. Dieser hätte, so Dalos, „alle Chancen gehabt, sogar seinem reformkommunistischen Namensvetter die Stirn zu bieten“. Dass es sich bei dem rätselhaften Namensvetter um Imre Nagy, eine zentrale Figur des magyarischen Aufstands und heutigen Nationalhelden handelt, lässt Dalos unerwähnt, er findet nur später beiläufig in einem Nebensatz Erwähnung. (Krasses Exempel für den Totalverlust an Lektoren im deutschsprachigen Verlagswesen, denn noch der lässigste Gegenleser hätte so einen Fauxpas nie durchgehen lassen.)
Mut zur originellen Deutung reicht nicht
So bleiben manche Zeitphase und ihre Protagonisten für historisch nicht ganz sattelfeste Geister im Nebelhaften. Andererseits bietet der Band, bei allem Reiz an Anekdotischem und auch dem Mut originellerer Deutungen im Detail nicht genug, um nun wirklich einigermaßen in der europäischen Zeitgeschichte beheimateten Geistern ein wirkliches Plus oder aber die Überraschung neuer Bezüglichkeiten zu bieten. Eine beigefügte Zeittafel, das Namens- und das Ortsregister reichen als Brücke über die Kluft zwischen zu viel Wissen und zu wenig Wissen nicht hin. Für Nichtswisser allerdings empfehlenswert.





















