Organspende: Wie fühlt es sich an, ein neues Herz zu bekommen? |ABC-Z

Mit dem Herzschlag ist es so wie mit vielem im Leben: Erst wenn er aus dem Takt gerät, werden wir uns seiner bewusst. Über ihr Herz hatte sich Lena Peter bis zu ihrem 19. Lebensjahr keine Gedanken gemacht. Warum auch? Die junge Frau aus Harsewinkel in der Nähe von Bielefeld war sportlich und viel auf Achse, am liebsten im Stall bei ihrem Pony Kitty. Was ihr zu schaffen machte, war ein anderes Körperteil: ihr Kopf.
Während der Pubertät hatte sie Migräneattacken entwickelt, an bis zu 15 Tagen im Monat. Ihr Arzt kam daher Ende des Jahres 2021 – sie war gerade 19 geworden – auf die Idee, ihr Betablocker als Prophylaxe für den Kopfschmerz zu verschreiben. Dieser gängigen Therapie ging ein Termin beim Kardiologen voran. Der stellte in einem Ultraschall eine verdickte Herzspitze fest und überwies Lena Peter zur weiteren Abklärung ans Herz- und Diabeteszentrum NRW (HDZ NRW) Bad Oeynhausen. „Die haben mich einmal auf den Kopf gestellt“, sagt sie. Die Untersuchungen, unter anderem ein Herz-MRT, bestätigten die verdickte Herzspitze. Die renommierte Klinik in Nordrhein-Westfalen ordnete diese Abweichung vom Normalzustand als unproblematisch ein.
„Ich wusste: Meine Familie macht die Hölle durch“
Im Sommer darauf ging es Lena Peter während einer Ferienfreizeit an der Ostsee plötzlich richtig schlecht. In einem Krankenhaus dort wurde eine Lungenembolie diagnostiziert, die Behandlung wurde eingeleitet. Zurück zu Hause stellte sie sich im Uniklinikum Münster vor. Die dortigen Ärzte konfrontierten sie mit der nächsten schwierigen Diagnose: Sie leide an einer restriktiven Kardiomyopathie, also an einer Schädigung des Herzmuskels, die durch krankhaftes Vernarben des Gewebes hervorgerufen wird. Die Ursache dafür war unklar – wie schon bei der Lungenembolie.
„In Münster wurde mir gesagt: Wir wissen nicht, wie lange das gut gehen wird“, erinnert sich Peter. Es könne sein, dass sie irgendwann eine Herztransplantation benötige, aber vorher gebe es viele andere Maßnahmen, um das Organ zu entlasten. „Der Gedanke an eine Transplantation war weit entfernt für mich“, sagt Peter. Zwar verzichtete sie fortan auf Sport und war beim Treppensteigen schnell kurzatmig, doch sie arrangierte sich mit den Einschränkungen. Im Sommer 2023 machte sie ihr Abitur, begann eine Ausbildung zur Bürokauffrau bei einem Speditionsunternehmen und zog mit ihrem Freund zusammen. Ende 2024 hatte sie das Gefühl, ein ziemlich normales Leben zu führen. Arbeitete, ging ins Fußballstadion und auf den Weihnachtsmarkt.
An einem Dienstag Ende Juli sitzt Lena Peter beim Videogespräch vor ihrem Notebook. Sie macht einen durch und durch positiven Eindruck. Trotzdem wird schnell klar, dass schwere Monate hinter ihr liegen. Zum einen sieht man eine Narbe, die aus dem Ausschnitt ihres T-Shirts schaut. Zum anderen sagt sie Sätze wie: „Ich wusste: Meine Familie macht die Hölle durch.“ Oder: „Das war ein Mix aus Trauer, Dankbarkeit, Angst.“ Beide beziehen sich auf die erste Jahreshälfte. Erst erfuhr sie, dass sie doch schon in naher Zukunft eine Herztransplantation benötigte. Und dann fand diese nach weniger als zwei Monaten Wartezeit statt. Auch wenn diese lebensverändernde Phase so reibungslos verlief, wie das nur vorstellbar war, muss Lena Peter sie noch verarbeiten. Dabei hilft der 22 Jahre alten Frau: reden, aufklären, werben dafür, dass Menschen sich Gedanken machen über Organspende.
„Ich verstehe, dass das ein unangenehmes Thema ist“, sagt Lena Peter. Auch sie beschäftige sich lieber mit anderem als dem eigenen Lebensende, aber gerade an ihr sehe man: Es kann jeden erwischen, unvorhergesehen. Und: Die Wahrscheinlichkeit, ein Organ zu benötigen, ist deutlich höher als die, selbst einmal Spender zu werden. „Zu Beginn des Gesprächs frage ich deshalb gerne: Würdest du ein Organ annehmen, wenn du eines benötigst?“ Zudem bitte sie ihr Gegenüber, eine Entscheidung zu treffen – vor allem, um für Klarheit zu sorgen und die Familie zu entlasten. „Natürlich kann man sich komplett gegen eine Spende entscheiden oder dafür, bestimmte Organe mit ins Grab nehmen zu wollen. Aber trefft diese Entscheidung und kommuniziert sie“, appelliert sie.
Weiterleben können, weil ein anderer Mensch gestorben ist
Auch sie musste in diesem Jahr viele Festlegungen treffen. Im Januar hatte Lena Peter nacheinander eine Lungenentzündung, eine Mittelohrentzündung, eine Blasenentzündung. Sie schluckte ein Antibiotikum und führte ihren Blähbauch erst auf eine Nebenwirkung des Medikaments zurück. Die Bauchschmerzen wurden so stark, dass ihre Mutter sie in die Notaufnahme des Warendorfer Krankenhauses brachte. Dort stellten die Ärzte fest: Lenas Bauch war nicht gebläht, sondern voller Wasser. Ein Herzultraschall wurde angeordnet, und ständig kam ein weiterer Mediziner ins Untersuchungszimmer, um sich das vernarbte, stark erweiterte Organ anzuschauen. Einer fragte: „Hat man mit Ihnen schon mal über eine Transplantation gesprochen?“ Lena Peter sagt: „Da wurde mir zwar anders zumute, aber die Tragweite habe ich noch nicht verstanden.“
Sie kam wieder ins Uniklinikum Münster, ein Herzkatheter und andere Untersuchungen bestätigten: Lena Peter brauchte ein neues Herz. Am 12. Mai 2025, gute zwei Jahre nach ihrem ersten Aufenthalt im Deutschen Herz- und Diabeteszentrum Bad Oeynhausen, setzte das deutschlandweit größte Herztransplantationszentrum Peter auf die Warteliste. Sie erhielt keine Hochdringlichkeitslistung (HU für High Urgency), sondern eine sogenannte T-Listung, vorgesehen für relativ stabile Patienten, bei denen keine unmittelbare Transplantation vonnöten ist. Unter gut kontrollierten Bedingungen können sie zu Hause auf die Operation warten, müsse nicht wie HU-Patienten in der Klinik bleiben. Die durchschnittliche Wartezeit der T-Patienten ist mit zwei bis vier Jahren aber deutlich länger als die zwei bis vier Monate, die HU-Patienten im Schnitt warten.
Lena Peter sagt: „In Oeynhausen ist das alles wie ein Wasserfall über mich gekommen, das war so eine Überforderung.“ An ihrem vorerst letzten Abend in der Klinik hörte sie, wie ein Hubschrauber auf dem Dach landete. Auf der Station sprach sich herum, dass eine Transplantation bevorstand. Ein Patient konnte weiterleben, weil ein anderer Mensch gestorben war. Lena Peter fragte sich: Kann ich, die ich immer möchte, dass es allen anderen gut geht, damit umgehen? Sie dachte an ihre Familie, die ihr über alles geht: ihre Mutter, ihre Schwester, die Großeltern. Und ihren Freund. Sie waren es, die, in Sorge um sie, „die Hölle durchmachten“. Für sie alle musste sie das Organ annehmen, wenn sie eines angeboten bekam. Und auch sie selbst fühlte sich längst noch nicht fertig mit ihrem Leben.
Um 3.37 Uhr klingelte Lena Peters Handy
Dann begann die Wartezeit. Sie zehrte an ihren Kräften. Rund um die Uhr musste sie erreichbar sein; eine Tasche, mit allem, was sie in der Klinik benötigt, hatte sie immer bei sich. Doch sie hatte Glück und den Zufall auf ihrer Seite, wurde viel schneller erlöst als gedacht. In einer Nacht im Juni 2025 klingelte um 3.37 Uhr Lena Peters Handy. Das genaue Datum wird nicht genannt, da in Deutschland eine transplantierte Person nicht erfahren soll, wer ihr Spender ist. „Wir haben ein richtig gutes Organ für Sie“, sagte der Klinikmitarbeiter des HDZ NRW aus Bad Oeynhausen. Peter musste bestätigen, dass sie die Transplantation möchte, dann blieb ihr eine halbe Stunde, bis ein Krankentransport sie abholte. Um 11.20 Uhr wurde sie in den OP gebracht. Abends rief sie von der Intensivstation aus ihre Mutter und ihren Freund an, am nächsten Tag konnte sie die ersten Besucher empfangen.
Körperlich erholte sie sich schnell. Das neue Herz schlug in ihrer Brust, sie spürte es klar und deutlich – und sie war froh, dass sie auf diese Erfahrung vorbereitet worden war, von der viele Herztransplantierte berichten, und die durch das operative Öffnen des Brustkorbs verursacht wird. In den ersten Tagen schaute sie ständig auf den Monitor, der Herzschlag und Puls anzeigte. In einer Nacht wachte sie auf, blickte zum Monitor und sah einen Puls von 70. Den Moment musste sie festhalten, einen so niedrigen Wert hatte sie seit Jahren nicht mehr gehabt. Sie machte ein Foto – und schickte es am nächsten Morgen ihrer Mutter. Schon nach ein paar Tagen lief sie im Treppenhaus mehrere Stufen am Stück. Nur drei Wochen nach dem Eingriff konnte sie nach Hause entlassen werden.
Professor Jan Gummert, der Ärztliche Direktor des HDZ NRW, sieht einen „unbedingten Zusammenhang“ zwischen dem reibungslosen Genesungsprozess und dem vergleichbar guten körperlichen Zustand, in dem sich Lena Peter zum Zeitpunkt der Transplantation befand. „Patienten, die wegen einer akuten Lebensgefahr hochdringlich gelistet werden, sind vor der Transplantation oft schon längere Zeit bettlägerig“, sagt der Herzchirurg. Das wirke sich ungünstig auf ihren Allgemeinzustand aus. „Unser Bemühen ist es daher, in Deutschland mehr Organe zur Verfügung zu haben, um Menschen schneller transplantieren zu können und bessere Erfolge zu erzielen.“ Im Durchschnitt lebten zehn Jahre nach einer Herztransplantation noch 60 Prozent der Patienten, nach 20 Jahren seien es 20 bis 30 Prozent.
„Ich vermeide es, im Streit auseinanderzugehen“
Seelisch aber war es schwer in diesen ersten Tagen. „Ich habe viel geweint“, sagt Lena Peter. Gedanken kreisten in ihrem Kopf: Wer war die Person, deren Herz in meiner Brust schlägt? In der Klinik war ihr gesagt worden: Der Mensch war zwischen 16 und 30 Jahren alt. Mehr erfährt der Empfänger nicht über den Spender; das System ist anonymisiert. Lena Peter erzählt, was sie bewegte, und was sie sich auch weiterhin fragt: Was hatte sich die Person für ihr Leben erhofft? Welche Pläne hatte sie? Und was macht die Familie jetzt durch? Noch in der Klinik setzte sie sich hin und verfasste einen Brief an die Familie des Spenders. Sie schrieb, dass sie dankbar sei für die Entscheidung des Verstorbenen oder seiner Angehörigen, die es ihr und ihrer Familie ermöglich hat, aufzuatmen. Dass sie hoffe, den Hinterbliebenen ein wenig Trost und Kraft schenken zu können, indem sie verspricht, bewusst und sorgsam mit dem geschenkten Organ umzugehen. Und dass sie ein bisschen mitleben wolle für den Verstorbenen. Ob die Familie den Brief entgegengenommen hat, sich stark genug fühlte, ihre Zeilen zu lesen, das weiß sie bislang nicht. Die Deutsche Stiftung Organtransplantation, die solche Briefe übermittelt, wird ihr dazu irgendwann Auskunft geben.
In der Klinik hatte sie die Möglichkeit, mit einem Psychologen zu sprechen. Lena Peter aber merkte: Das bringt ihr nicht viel. Auch der Austausch mit anderen Transplantierten belastete sie eher. Auch deshalb entschied sie sich gegen eine stationäre Reha im Anschluss an den Klinikaufenthalt und wurde nach Hause entlassen. Von dort nimmt sie auch Kontakt auf zu Medien wie der F.A.Z. Davon zu erzählen, wie es sie ohne Vorwarnung traf und zugleich berichten zu können, wie gut ein Organismus eine Organspende wegstecken kann, wenn der Körper noch etwas entgegenzusetzen hat, das sei ihre Form der Verarbeitung, sagt Peter.
Bis zu 20 Tabletten am Tag nimmt sie momentan noch ein. Die Immunsuppressiva, die dafür sorgen sollen, dass ihr Körper das neue Organ nicht abstößt, wird sie bis ans Lebensende schlucken müssen. Sie erhöhen das Risiko, an Krebs zu erkranken, während Abstoßungsreaktionen gleichwohl möglich sind. Trotz der erfolgreichen Spende muss Lena Peters Zukunft also nicht rosarot sein, das weiß sie. „Aber ich habe wieder eine Zukunft, kann planen.“ Bald will sie ihre Lehre fortsetzen und zum Abschluss bringen. Und sich mit ihrem Freund ein neues Hobby suchen. Der Pferdestall nämlich ist kein Aufenthaltsort mehr für sie; zu viele Pilzsporen fliegen dort herum. Sie freue sich „so krass über das neue Lebensgefühl, so viel mehr Energie, die ich jetzt wieder habe“. Und über banale Dinge wie endlich wieder warme Füße, Hände, eine warme Nasenspitze zu haben. Sie lebe bewusster, nehme ihr Dasein nicht als selbstverständlich. „Ich vermeide es, im Streit auseinanderzugehen“, sagt sie. Schlechte Laune bringe niemandem was. „Ich will in Erinnerung bleiben als eine, die gute Laune hatte.“