Olympiasieger Freund über Tournee: „Paschkes Sprung passt in diesem Jahr sehr gut auf alle Schanzen“ | ABC-Z
AZ: Herr Freund, am Samstag beginnt mit der Qualifikation in Oberstdorf die 73. Vierschanzentournee. Sie haben selbst an 13 Ausgaben teilgenommen – ist dieser Neun-Tage-Ritt der intensivste, den ein Skispringer erleben kann?
SEVERIN FREUND: Eine gute Frage! Es kommt immer ein wenig darauf an, in welcher Position man ist. Die Raw Air kann je nach Ausgabe wahrscheinlich noch intensiver sein. Wenn Du bei der Tournee um die vorderen Plätze springst, kommt natürlich die mediale Komponente dazu, die Du sonst so nicht hast.
Team-Olympiasieger, Gesamtweltcup-Sieger, Skiflug-Weltmeister, dreimaliger Skisprung-Weltmeister – wie sehr ärgert es Sie, dass es mit der Vierschanzentournee nicht geklappt hat? 2015/16 war nur Peter Prevc besser als Sie.
Ehrlich gesagt gar nicht. Mich hat lange Zeit gewurmt, dass ich es nicht geschafft habe bei der Tournee in der Form zu sein, die ich mir erhofft, erwünscht und auch erarbeitet habe. Da gab es viele Gründe in den Jahren davor und 2015/16 war ich definitiv in der Form, in der ich dort sein wollte. Dass es dann zum Sieg nicht gereicht hat, mein Gott, das hast Du ja nicht selbst in der Hand. Deswegen, damit, dass ich meinen Teil dazu gemacht habe sie gewinnen zu können, damit war ich dann im Reinen mit der Tournee und dann war halt noch ein anderer besser.
“Wenn Du einmal im Flow bist, dann verlierst du den über die Tournee nicht mehr”
Heuer gehen mit Pius Paschke, Daniel Tschofenig, Jan Hörl, Stefan Kraft, und Andreas Wellinger fünf Springer den beiden Gastgebernationen als Weltcup-Beste in die Tournee (ergänzt durch den Schweizer Gregor Deschwanden auf Rang fünf) – ähnlich zu 2023/24. Vor einem Jahr sprach Thomas Morgenstern in der AZ von „sensationellen Voraussetzungen“ mit Blick auf die deutsch-österreichische Rivalität – sehen sie das heuer ähnlich?
Auf alle Fälle. Jetzt gerade nach dem letzten Wochenende muss man sagen, dass sich vor allem Österreich als Nation ziemlich eindeutig in die Favoritenrolle gesprungen hat. Sie hatten mit Daniel Tschofenig, Jan Hörl und Stefan Kraft drei Springer, die in Engelberg so performt haben, dass man sie ganz oben sehen kann. Das macht es schon noch einmal einfacher wie aus deutscher Sicht. Man darf aber bei der Tournee nie sagen, dass es definitiv einer aus diesen Nationen wird, weil es immer den Faktor X gibt, dass gerade einer auf dem Weg zur guten Form ist. Dazu sind diese Tage bei der Tournee einfach ein bisschen zu abgekapselt vom Rest der Saison. Wenn Du einmal im Flow bist, dann verlierst du den über die Tournee nicht mehr. Da kann Dir dann nur noch das Wetter einen Strich durch die Rechnung machen. Deswegen kann auch wieder jemand von außen dazu kommen. Aber im Moment sieht es sehr nach deutsch österreichischer Rivalität aus.
Pius Paschke ist mit 34 Jahren in der Form seines Lebens, gewann mit 33 im Vorjahr sein erstes Weltcup-Springen. Wie überrascht sind sie von seiner Form und können Sie sich diesen Spätstart erklären?
Ich bin sowohl überrascht als auch nicht überrascht. Dass er das Potenzial dazu hat, das hat man eigentlich immer gewusst. Ihm hat oft der letzte Schritt gefehlt, wenn man gedacht hat, er könnte jetzt in die Form kommen, wo er super gefährlich ist. Aber wenn man sich die ganzen letzten Jahre ansieht, hat er eine relativ kontinuierliche Entwicklung genommen. Jetzt erntet er so ein wenig die Früchte der Arbeit. Daher ist es eigentlich gar nicht so überraschend. Wenn man seine Karriere betrachtet, ist er auch noch gar nicht ewig im Weltcup dabei. Es gibt Leute in dem Alter, die haben deutlich mehr Weltcup-Jahre auf dem Buckel, daher muss man sein Alter immer ein bisschen einordnen. Deswegen passt das eigentlich ziemlich gut. Vom letzten auf dieses Jahr hat er technisch einen guten Schritt gemacht, deswegen trägt er derzeit zurecht das Gelbe Trikot.
Dämpfer in Engelberg? “Das kann sogar wertvoll sein”
Ausgerechnet bei der Generalprobe in Engelberg musste Überflieger Paschke mit den Rängen zehn und 18 einen herben Dämpfer einstecken. Auch für die anderen DSV-Adler lief es alles andere als rund. Wie gefährlich ist das für den Kopf?
Das ist sehr davon abhängig, wie Du es einordnen kannst. Es war in Engelberg sicher kein einfaches Wochenende mit der Witterung, beim Pius hat es definitiv nicht so zusammengepasst. Aber ich glaub schon, dass er da momentan in der Verfassung ist, dass er es relativ schnell analysieren kann, woran es gelegen hat, Manchmal ist es sogar besser, wenn man da ein Wochenende hat, wo es nicht so lief. Das ist ja die große Crux: Wenn Du sehr gut in Form bist, schleichen sich immer wieder mal Fehler ein, die sich anfangs noch nicht groß auswirken. Irgendwann wirken sie sich aber aus. Wenn das an einem Wochenende eintritt, wo das noch nicht komplett entscheidend ist und du so früh genug eingreifen, die Schrauben wieder in die richtige Richtung drehen kannst, kann das sogar wertvoll sein.
Woran hat es in Engelberg gehakt?
Der Speed hat nicht hundertprozentig gepasst, dabei war das eine seiner großen Stärken in diesem Winter – das merkst Du dann ganz direkt an der Sprungweite. Vielleicht auch, dass er letztes Jahr dort gewonnen hat. Da kehrst Du mit sehr gutem Gefühl zurück, kommst aber nicht so schnell rein und dann kann so ein Wochenende auch mal holpriger laufen. Aber um den Pius würde ich mir relativ wenig Sorgen machen. Es ist eher der Blick auf die Österreicher, mit welcher Breite sie da vorne dabei sind, das ist speziell und die beste Ausgangslage für die Vierschanzentournee. Wenn Du drei Springer ganz vorne hast, ist es ganz einfach. Wenn einer mal nicht durchkommt, hast Du ja noch zwei andere. Bei uns dürften Andreas Wellinger und Karl Geiger gerne noch einen Schritt nach vorne machen.
“Wenn Du bis dahin in guter Form warst, kann sich das genau zur Tournee auch ändern”
Ihr TV-Experten-Kollege Sven Hannawald sagte, dass die Schanze und Bedingungen in Engelberg „schwierig“ gewesen seien und das, was jetzt kommt, also die Schanzen der Tournee, leichter wäre. Wie sehen Sie das?
Engelberg ist immer speziell – auf 1100 Metern mit viel Rückenwind. Das ist eine ganz eigene, extreme Kategorie von Skispringen. Das ist auf der Tournee auf jeden Fall anders. Es war halt ein nasser Schnee-Wettkampf, das ist natürlich ein anderes Gefühl im Anlauf. Wir hatten zwar schon Niederschlag in diesem Jahr, aber es war meist gut im Griff. In Ruka hatte es ein paar Sportler geschluckt, die dann relativ chancenlos waren. Aber wenn es so ist wie Engelberg, bei so einem Niederschlag ist die Jury zum Abbruch gezwungen oder muss es gnadenlos durchziehen. Wenn Du da mal eine Pause machst, schneit es Dir die Spur zu. Das ist schon ein anderes Gefühl beim Anfahren. Für Pius war das vielleicht sehr wertvoll, weil er bisher maximal aggressiv in der Hocke hat anfahren können, weil es die Anläufe bisher hergegeben haben. Vielleicht ist da so ein Wochenende zum Justieren gar nicht so verkehrt.
Schon sechsmal führte ein deutscher Skispringer vor Oberstdorf den Gesamtweltcup an, den Tourneesieg schaffte keiner. Wie kann das sein? Warum ist die Tournee so speziell?
Weil sie einfach eigene Schanzen-Charakteristiken hat, die oft mit den Anlagen vor der Tournee nicht so hundertprozentig aufeinanderpassen, andere Herangehensweisen benötigen. Bei der Tournee kann auch das Wetter mal kurios ablaufen – Innsbruck, ich denke an Dich (lacht). Zudem ist die Zeit davor oft nicht ganz kurz. Wenn Du bis dahin in guter Form warst, kann sich das genau zur Tournee auch ändern, das wechselt ja. Wenn Du aber in Gelb zur Tournee fährst, hast Du bis dahin erst einmal alles richtig gemacht. Das ist eigentlich die beste Variante. Zudem kommen immer individuelle Geschichten bei der Tournee zum Tragen. Heuer zum Beispiel bleiben wir trotz Weihnachten im normalen Weltcup-Rhythmus, da gibt es auch andere Jahre mit längerer Pause. Manch einer kann so eine Pause gar nicht gebrauchen, dem anderen hilft sie aber. Da findet man viele Erklärungen.
„Paschkes Sprung passt in diesem Jahr sehr gut auf alle Schanzen“
Ex-Bundestrainer Werner Schuster sprach vor einem Jahr davon, dass jeder Springer auf der Tournee eine Achillesferse hätte: „Andreas Wellinger muss über Oberstdorf drüber kommen, Stefan Kraft über Garmisch und Karl Geiger über Innsbruck.“ Wie ist es heuer mit Pius Paschke?
Ich glaube tatsächlich, dass er alle Schanzen sehr gut kann. Er ist bei der WM 2021 in Oberstdorf sehr gut gesprungen, er kann Garmisch sehr gut. In Innsbruck hat er schon bittere Erfahrungen gemacht, wobei es dort auf den richtigen Sprung-Zeitpunkt ankommt. Und Bischofshofen kann er sowieso. Sein Sprung passt vor allem in diesem Jahr sehr, sehr gut auf alle Schanzen. Das Wetter ist aber wie jedes Jahr ein Punkt: Rund um Weihnachten hast Du halt oft Wetterwechsel und mal einen Tag mit Föhn. Das sind immer Unwägbarkeiten, die Du absolut nicht beeinflussen kannst und wo Du mal bei 120 Metern landest, weil in diesem Moment einfach nicht mehr möglich ist. Mir fällt kaum eine Tournee ein, wo es vier komplett gleichmäßige und entspannte Wettkämpfe mit Blick auf die Verhältnisse gegeben hat. An einem Weltcup-Wochenende kann Dir das eigentlich egal sein, weil sich das über die Saison hinweg ausbügelt. Bei der Tournee hast Du mehrere Wettkämpfe, in denen Du eine reelle Chance auf ganz vorne haben musst, wenn Du was reißen willst. So wie Pius im Moment technisch springt, kann es auf allen Schanzen sehr gut funktionieren. Er wäre definitiv bereit, wenn alles glatt geht.
Oberstdorf war in den vergangenen Jahren regelmäßig ein gutes Auftaktpflaster für die deutschen Adler. Aber in Garmisch-Partenkirchen und Bischofshofen konnte seit 2002, also seit Sven Hannawalds Triumphzug, kein Deutscher mehr gewinnen. In Innsbruck gelang es nur Richard Freitag 2015. Ist das irgendwie zu erklären?
Muss man das erklären? Wenn wir das Positive raussuchen wollen, sind das die zweiten und dritten Plätze in der Gesamtwertung seither. Damit ist es sonnenklar, dass irgendwann wieder ein Deutscher die Vierschanzentournee gewinnen wird. Der Hunger wird sicher nicht weniger. Die Frage ist nur, wie lang wir warten müssen. Oberstdorf und Garmisch sind Schanzen, auf denen viel trainiert wird und sind für einige Sportler sehr gegensätzlich. Wenn Du in Garmisch zu viel Geschwindigkeit über dem Vorbau machen willst, saugt es dich zu sehr an den Hang – in Oberstdorf kannst Du das aber super machen. Die Deutschen haben das in den letzten Jahren immer besser hinbekommen, mittlerweile wird es auch in Garmisch besser. Früher oder später werden wieder Einzelsiege auf diesen Schanzen passieren, ebenso wie der Gesamtsieg.
Schicksalsspringen in Innsbruck? “Es ist nicht die Schanze an sich, sondern das Drumherum”
Oft war auch der Bergisel in Innsbruck die Endstation der deutschen Tournee-Hoffnungen – der als einziger der vier Standorte noch kein Flutlicht hat. Ist der Bergisel also die Achillesschanze der Deutschen?
Aus rein sportlicher Sicht muss man sagen, dass man sich mit Flutlicht relativ viele Probleme ersparen könnte, weil man in Innsbruck immer unter Zeitdruck ist. Hinten raus wird das Licht blöd, vor allem bei bewölktem Himmel. Sie ist zudem die einzige Schanze mit einem Gegenhang und einem Zuschauerkessel, was den Wind entscheidend beeinflussen kann. Das Flutlicht ist unbedingt notwendig, bei einem Abendspringen hättest Du zu 90 Prozent bessere Bedingungen. Die Zeit um den Jahreswechsel ist einfach speziell. Bei der WM 2019 hatten wir auf dieser Schanze Ende Februar, Anfang März grandiose Wettkämpfe. Bei der Tournee hat der Bergisel einfach eine wechselhafte Geschichte, nicht nur aus deutscher Sicht. Es ist auch nicht die Schanze an sich, sondern das Drumherum. Sie steht oben auf einem Berg – hinten geht es zum Brenner runter, vorne nach Innsbruck – das ist sehr exponiert. Drastisch gesagt: Die Schanze war ja früher mal deutlich kleiner und wenn Du auf einem Hügel, der eigentlich nicht recht viel mehr hergibt, eine größere Schanze drauf baust, machst Du sie windanfälliger. 2025/26 soll meines Wissens das Flutlicht kommen.
Wie lautet ihr Tipp für die Tournee 2024/25? Welche Springer sind ihre Favoriten und wer setzt sich durch?
Hörl, Tschofening, Paschke, Kraft, Wellinger mit einem kleinen Sternchen und noch ein Norweger wird dazu kommen. An Titelverteidiger Ryōyū Kobayashi glaube ich nicht, dafür war er im Vorfeld zu instabil. Bei den Polen und Slowenen wird es sich nicht ausgehen, obwohl ein Anze Lanisek eigentlich dafür prädestiniert wäre. Andi Wellinger muss schon im Training performen, weil der Weg von schwächeren Sprüngen im Training bei der Tournee zur Top Leistung im Wettkampf zu weit ist. Nur in Titisee-Neustadt ist ihm das bisher sehr gut gelungen. Darauf muss er bauen. Das Gleiche gilt eigentlich für Karl Geiger. Er muss im Training schon unter die besten Zehn springen, weil er dann weiß, dass der Schritt zum Wettkampf nicht mehr so groß ist. Wenn das nicht so ist, kostet das über die ganzen Tage zu viel Kraft.
Sie sind jetzt in ihrer zweiten Saison als Skisprung-Experte für das ZDF aktiv. Gibt es Überlegungen, vielleicht noch näher wieder an das Skispringen heranzurücken, beispielsweise als Trainer?
Für den Moment fühle ich mich da sehr richtig. Es ist auch sehr gut mehr Zeit für die Familie zu haben als zur aktiven Zeit. Ich habe schon während meiner gesamten Karriere gesagt, dass ich mir alles, was danach kommt, dann überlege, wenn es so weit ist. Genau so ist es jetzt auch. Ich werde keine Türen zu machen. Es kann sein, aber im Moment nicht.