Ölpest im Schwarzen Meer hat fatale Folgen | ABC-Z

Eigentlich sollte jetzt die Hauptsaison in Anapa beginnen, einem Badeort an der südwestrussischen Schwarzmeerküste. Zwar hat die Havarie zweier Öltanker Mitte Dezember im Sturm in der Meerenge von Kertsch zwischen Russland und der annektierten ukrainischen Halbinsel Krim Tausende Seevögel und Dutzende Delphine das Leben gekostet, zwar werden immer wieder schwarze Schwerölklumpen an die Strände gespült. Doch erst vor Kurzem, am 22. April, hat es die russische Verbraucherschutzbehörde verboten, in diesem Jahr an 141 Stränden in Anapa und neun weiteren in dessen nördlichem Nachbarbezirk zu baden. Sie begründete das mit Verstößen gegen „sanitäre und hygienische Standards“, ohne den Grund zu erwähnen: die bisher schlimmste russische Ölkatastrophe in diesem Jahrhundert.
Auf der besetzten Krim soll die Saison gar wie gewohnt stattfinden. Im Grauen des Krieges soll die Katastrophe mit dem Plazet der Mächtigen vergessen werden. Dabei drohen weitere schlimme Folgen für Mensch und Natur.
Igor Schkradjuk erfährt sie am eigenen Leib. Er ist schon seit Anfang Februar in Anapa im Einsatz. Zusammen mit zwei Bekannten fuhr der Umweltschützer vom Zentrum zur Bewahrung der Biodiversität, einer Umweltschutzorganisation mit Sitz in Moskau, aus seiner Heimatstadt Jaroslawl an der Wolga im Auto mehr als 1700 Kilometer an die Schwarzmeerküste. Schkradjuk ist Anfang 60, Ingenieur und Fachmann dafür, die Energie- und Schwerindustrie umweltfreundlicher zu gestalten. Erst wollte er nur für eine Woche nach Anapa kommen und Proben nehmen. Masut sei ausgetreten, hieß es gleich nach der Havarie der beiden Tanker, der Wolgoneft 212 und der Wolgoneft 239.
„Nicht so einfach, Proben zu nehmen“
Dieses Schweröl, ein Rückstand der Erdölverarbeitung, wird in Russland als Heizöl verwendet. Aber als Masut würden Substanzen mit unterschiedlichen Eigenschaften bezeichnet, erläutert Schkradjuk. Man müsse klären, was genau ausgelaufen ist, um Wege zu finden, die Schadstoffe zu beseitigen und ihre Wirkung auf Mensch und Tier zu ermessen. „Doch es stellte sich heraus, dass es nicht so einfach ist, Proben zu nehmen.“ Mal gingen sie angeblich verloren. Mal sagten die Chemiker, ihnen sei empfohlen worden, Untersuchungsergebnisse nicht zu veröffentlichen.
2007 war in einem Sturm an gleicher Stelle ein anderes Schiff havariert, die Wolgoneft 139. Freiwillige, die damals halfen, das Masut zu beseitigen, und jetzt wieder dabei waren, sagten Schkradjuk, das heutige Schweröl sei dickflüssiger. „Es hat einen sehr starken Geruch und verursacht Vergiftungen.“ Die wenigen Analysen, die er und seine Mitstreiter bekamen, zeigten Beunruhigendes: Der Gehalt hochgiftiger Stoffe steige mit der Nähe zum Unfallort an. Sie können Krebs hervorrufen, das Erbgut ändern und Fehlbildungen bewirken.
Das Masut an Bord der beiden Tanker, offiziell insgesamt 9200 Tonnen, gehört dem staatlichen Ölkonzern Rosneft. Die Tanker hatten es in Saratow an der Wolga aufgeladen, wo Rosneft eine Raffinerie betreibt. Doch aufgrund der Äußerungen eines Besatzungsmitglieds der Wolgoneft 239 vermutet Schkradjuk, dass mindestens dieser Tanker später in Rostow am Don noch weitere, viel höher konzentrierte Rückstände der Ölverarbeitung an Bord nahm: solche aus der Raffinerie von Nowoschachtinsk. Diese wird der Frau des ukrainischen Geschäftsmanns Viktor Medwedtschuk zugeordnet, eines Weggefährten des russischen Präsidenten Wladimir Putin.
Medwedtschuk kam nach dem russischen Überfall von 2022 in der Ukraine in Haft, aber im Zuge eines Austauschs frei und nach Russland. Jetzt baut ihn der Kreml allem Anschein nach als möglichen Kopf eines prorussischen Regimes in Kiew auf. Sollte mindestens die Wolgoneft 239 weitere, hochgiftige Rückstände aus der Raffinerie von Nowoschachtinsk aufgenommen haben, würde das laut Schkradjuk die Unterschiede bei den Proben erklären – und auch, dass die staatlichen Behörden die Ergebnisse ihrer eigenen Analysen nicht veröffentlichten.
Seine Vermutung sieht der Umweltschützer dadurch bestätigt, dass sich das an Bord der Wolgoneft 239 verbliebene Öl als schlecht brennbar erwies. Das Heck des Tankers war ans Ufer getrieben, 1482 Tonnen wurden abgepumpt und sollten als Heizöl verkauft werden. Eigentlich sei das Masut aus dem Rosneft-Werk in Saratow gut dafür geeignet, sagt Schkradjuk. Aber die Substanz aus dem Wrack rußte stark, hinterließ viel Asche. „Das spricht dafür, dass es kein gewöhnliches Masut war.“
„Viele Freiwillige leiden unter Schmerzen“
Schkradjuk findet, die freiwilligen Helfer müssten um die Gefahren wissen, die ihnen und ihren Nachkommen drohten. Aber einige zögen nicht einmal ihre Masken und Schutzhandschuhe an. Bei manchen zeigten sich Hautreaktionen, berichtet Schkradjuk. Seevögel zeigten Störungen des Nervensystems. In ihrem Blut ging die Anzahl roter Blutkörperchen zurück, die den Sauerstoff transportieren. Es droht Anämie, Sauerstoffmangel. Schkradjuk weiß auch, dass sich bei einer Person, die über längere Zeit half, ölverschmierte Seevögel zu reinigen, der Anteil der roten Blutkörperchen mehr als halbiert habe. „Eine solche Gesundheitsänderung ist schwer zu korrigieren“, sagt er. Die Vögel werden in Auffangstationen gereinigt, auch die Behörden verbreiten solche Bilder. Aber die Menschen? „Leider wird die Gesundheit der Freiwilligen und der Anwohner nicht systematisch untersucht“, sagt Schkradjuk.
Im Januar starb ein 17 Jahre alter Student aus Anapa, der von seiner Hochschule zu Aufräumarbeiten herangezogen worden war. Herzversagen, hieß es offiziell. Zudem wurde verbreitet, der Junge habe an Asthma gelitten. Seine Mutter, die nach Antworten sucht, wies das in Gesprächen mit unabhängigen Medien zurück; die staatlichen sagten ihr, das Thema sei bei ihnen verboten. Ende Februar starb auch ein Taucher des Katastrophenschutzes, dessen Leute Masut vom Meeresboden klauben, im Einsatz. Schkradjuk weiß von Freiwilligen, die stark zu husten begannen.
Als er selbst Anfang Februar nach Anapa kam, war es frostig, da stank das Masut nicht. „Aber der Wind nahm winzige Brocken davon auf, und sie gerieten in die Lungen.“ Auch er habe zu husten begonnen. Hinzu kommen Schwindel durch die Ausdünstungen des Öls und ständige Kopfschmerzen. „Viele Freiwillige leiden unter Schmerzen des Verdauungssystems, Problemen mit der Bauchspeicheldrüse und der Leber“, sagt Schkradjuk. „Mir tun regelmäßig die Nieren weh.“

Trotzdem will der Fachmann bald damit beginnen, Steine und Felsen mit einem Hochdruckreiniger zu säubern. Die Behörden kümmern sich um den Sand – aber mit wechselnden Ansätzen. Zu Anfang gab Moskau den Befehl, den verunreinigten Sand von den Stränden fortzuschaffen. Das wurden insgesamt 170.000 Tonnen. Anwohner der Deponien, auf die er gebracht wurde, erst in die Nähe von Anapa und dann Hunderte Kilometer entfernt ins Rostower Gebiet, protestierten. Jüngst auch mit einem Videoappell an Putin, wie sie bei allen Missständen in Russland typisch sind: Frauen mit Schildern in der Hand bitten den Präsidenten um Hilfe, weil sie dessen Funktionären nicht trauen. Schkradjuk sah selbst, dass auch sauberer Sand von Stränden weggeschafft wurde, und vermutet, dass er verkauft wurde. Vor Kurzem wurde entschieden, den verschmutzten Sand doch vor Ort zu reinigen, so mit Mikroorganismen. Doch die müssen dafür erst eigens gezüchtet werden. „Das dauert“, sagt Schkradjuk. Dabei drängt die Zeit.
„Es droht eine Verdoppelung der Katastrophe“
Vor allem am Grund der Meerenge von Kertsch. In den drei Wrackteilen in rund 20 Meter Tiefe, in der in zwei Teile zerbrochenen Wolgoneft 212 und im Bug der Wolgoneft 239, lagern nach offiziellen Angaben noch 3919 Tonnen Masut. In einer Regierungsvideokonferenz mit Putin hieß es Mitte April, bis Ende Oktober sollten über den Wracks sogenannte Kofferdämme installiert werden, um das Masut zu isolieren und dann abzupumpen; die Wracks sollten später gehoben werden. Doch wenn die Wassertemperatur jetzt steigt, droht das Schweröl auszutreten. Schkradjuk spricht von „Zeitbomben am Meeresgrund“, die dringend entschärft werden müssten.
Er rechnet vor, dass statt der offiziell angegebenen 2400 Tonnen wohl schon etwa 3800 Tonnen ausgetreten sein dürften. „Es droht eine Verdoppelung der Katastrophe.“ Schkradjuk glaubt zwar nicht, dass Putin ausländische Hilfsangebote annehmen würde. Das tat der Präsident schließlich auch nicht im Jahr 2000 bei der Havarie des Atomunterseeboots Kursk im Nordpolarmeer, zu Friedenszeiten. „Aber es hätte enorme moralische Bedeutung, wenn uns andere Staaten technische Hilfe anböten.“
Die Schiffe der Wolgoneft-Klasse sind nicht hochseetauglich, Wellen über zwei Meter Höhe werden ihnen gefährlich. Am Tag des Unglücks, dem 15. Dezember 2024, waren die Wellen in der Meerenge von Kertsch mehr als vier Meter hoch, auch bis zu sieben Meter sind dort üblich. Putin und andere sahen rasch die Schuld bei den Reedereien, denen die beiden jeweils mehr als ein halbes Jahrhundert alten Tanker gehören.
Während der Havarie kam ein Matrose ums Leben, er starb an Unterkühlung, ein Strafverfahren läuft. Die Ladung, das Masut, war nicht versichert, nur die beiden Tanker waren es. Aber die Schadenssumme, welche die Umweltaufsichtsbehörde mit umgerechnet gut 900 Millionen Euro angibt, übersteigt die Versicherungssumme von insgesamt etwa 36 Millionen Euro schon jetzt bei Weitem, und die Reedereien haben das Geld nicht.
Russland wende sich daher an den internationalen Fonds zur Entschädigung von Ölverschmutzungsschäden auf See (IOPC) mit Sitz in London, sagt die Berliner Politologin Oxana Schmies, die für die deutsche Marion-Dönhoff-Stiftung über die Katastrophe forscht. Eigentlich müsste sich Russland gemeinsam mit der ebenfalls betroffenen Ukraine um Unterstützung bemühen. Schmies sieht nun die Gefahr, dass Moskau die reale Verschmutzung verschleiert und trotzdem die Kompensation erhält. Sie spricht von einer „absurden Situation“, denn für das Schwarze Meer gebe es eine Reihe von Verträgen und Hilfsmechanismen wie die Bukarester Konvention von 1992. Jetzt stehe allein die finanzielle Entschädigung Russlands im Vordergrund. „Stattdessen sollten sich die internationalen Organisationen und politischen Akteure dringend darauf konzentrieren, die Tanker und das Schweröl vom Meeresgrund zu bergen, um die akute Gefahr für das Meer, Menschen und Tiere in allen betroffenen Schwarzmeerländern zu beseitigen.“
Beschwerden von Touristen
Der Rosneft-Konzern, den der mächtige Putin-Weggefährte Igor Setschin führt, spielt weder bei der Frage nach der Verantwortung noch bei der Bewältigung der Folgen der Katastrophe eine Rolle. Rosneft betreibt auch ein großes Tankstellennetz, gehört laut Igor Schkradjuk aber nicht einmal zu den Unternehmen, die an die Helfer in der Region Tankkarten ausgeben, um die Logistik zu unterstützen. Offiziell wird auch nicht thematisiert, auf was für einen Tanker die beiden havarierten Schiffe seit Ende November in der Meerenge von Kertsch warteten. Er sollte das Masut übernehmen. Eine Gruppe russischer und ukrainischer Fachleute, die die Folgen des Angriffskriegs für die Umwelt untersucht, will herausgefunden haben, dass es sich um einen Tanker der sogenannten Schattenflotte handelte, die Russlands Öl auf die Weltmärkte bringt. Sie vermuten, dass er die Fracht nach Indien bringen sollte.
Touristen, die die Lust auf Anapa verloren haben, beschweren sich jetzt in Foren, dass die Hotels ihnen Anzahlungen nicht erstatten. Zugleich werden aber auf Staatskosten Kinder aus bedürftigen Familien in den Erholungsheimen der Gegend untergebracht, auch als Stützmaßnahme für die gebeutelte Tourismusbranche. Als wäre alles normal, hatte Anapa für Samstag zu einem Wettbewerb geladen, bei dem Amateure und Sportler eine Seemeile (1,852 Kilometer) im Meer schwimmen sollten – die Absage kam erst kurzfristig. Schkradjuk sagt, die Zahl der Freiwilligen gehe zurück, man habe den Eindruck, dass der Staat sie nicht länger wolle. Ein Blogger, der über Verschmutzungen auf der Krim berichtete, wurde zu einer Geldbuße verurteilt.
Russlands Umweltschützer sind längst auf sich allein gestellt, im Krieg hat Moskau Greenpeace und den World Wildlife Fund als „unerwünscht“ verboten. Schweigen wollen sie nicht. Igor Schkradjuk hat seine Erkenntnisse vor Kurzem in einem Artikel, „Anämie des Gewissens“, für eine russische Fachzeitschrift zusammengefasst. „Der Preis der Lüge“, resümiert er darin, würden künftig „überfüllte Krankenhäuser und Hospize“ sein. Eine Reaktion kam bisher nicht. „Die offiziellen Stellen tun so, als wäre nichts passiert.“