Ohne ihn ist Scholz weg | ABC-Z
Dass Mützenichs Stellung in der eigenen Partei heute so groß ist wie nie zuvor, hätte sich vor gut zweieinhalb Jahren kaum jemand vorstellen können. Der Überfall Russlands auf die Ukraine stellte seine politische Biographie infrage. Sein Leben lang hatte sich der Außenpolitiker mit Friedenspolitik und Abrüstung beschäftigt. Alles dahin mit dem 24. Februar 2022.
Nun aber drückt Mützenich der SPD seinen Stempel auf. Dass die Bundeswehr trotz Zeitenwende weiterhin keine bewaffneten Drohnen besitzt? Mützenichs Werk. Wer hat beschlossen, bis wann es eine Einigung im Haushaltsstreit zwischen SPD, Grünen und FDP geben muss, und den Kanzler an einem Sommermorgen um 7 Uhr in die Fraktion zum Rapport bestellt? Mützenich. Wer hat sich für eine „Konzertierte Aktion“ zur Industriepolitik im Kanzleramt ausgesprochen? Auch Mützenich. Und wer hat kurze Zeit später die Einladung zu einem Industriegipfel verschickt? Scholz.
„Ich diene der Fraktion.“ Das ist ein typischer Mützenich-Satz. Seine Macht aber ist enorm. Sie fällt nur kaum auf. Das liegt zum einen an seiner Art. Er ist ein Einzelgänger mit Prinzipien. Man sollte also ernst nehmen, was er sagt. Außerdem ist er ein bemerkenswert freundlicher Mensch, das fällt jedem im politischen Berlin auf. Selbst dem CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz. Die beiden geben gerne zu, dass sie sich gut verstehen.
Neuer Generalsekretär führt Schröder wieder in die Mitte der Partei
Zum anderen fällt Mützenichs Macht kaum auf, weil das Amt zufällig über ihn kam. Als Andrea Nahles im Juni 2019 als Partei- und Fraktionsvorsitzende zurücktrat, übernahm Mützenich den Posten kommissarisch, weil er ihr dienstältester Stellvertreter war. Mützenich ging zwar auch weiterhin kaum in Talkshows oder auf große Bühnen, fand aber Gefallen an den neuen Gestaltungsspielräumen.
Inzwischen ist er seit fünf Jahren Fraktionsvorsitzender, er ist bei den Abgeordneten beliebt. Trotzdem hält sich die Mär, dass der Mann mit der Macht fremdele, ihm das alles zuwider sei. Das Gegenteil ist der Fall.
In den vergangenen Tagen haben Mützenich und seine Unterstützer, die einen differenzierteren Ansatz im Ukrainekrieg bis hin zum „Einfrieren“ fordern, gleich doppelt Aufwind bekommen. Zum einen hat der neue Generalsekretär Matthias Miersch per Interview Gerhard Schröder wieder in die Mitte der Partei geführt. Er habe einen Platz in der SPD, „sonst hätte Schröder aus der Partei ausgeschlossen werden müssen“, sagte Miersch dem „Stern“. Zwei Schiedsgerichtsverfahren seien zu dem Schluss gekommen, dass sich der Putin-Freund Schröder nicht parteischädigend verhalten habe, damit ist die Sache laut Miersch erledigt. Auch wenn er Schröders Position zu Putin ablehne, könne er seine Lebensleistung „insgesamt würdigen“.
Und dann haben sich SPD und BSW in Brandenburg auf ein Sondierungspapier geeinigt. In dem heißt es, der Krieg werde nicht durch weitere Waffenlieferungen beendet werden können. Es brauche stattdessen mehr Diplomatie. Außerdem sind sich beide Landesverbände darin einig, dass sie die geplante Stationierung von Mittelstrecken- und Hyperschallraketen in Deutschland kritisch sehen. „Es braucht konkrete Angebote, um wieder zu Abrüstung und Rüstungskontrolle zu kommen.“
BSW-Chefin Sahra Wagenknecht lobte die Einigung. Von der SPD-Spitze, die vorab wohl informiert war, ist nichts zu hören, obwohl diese Formulierungen teilweise in direktem Widerspruch zur Politik von Scholz stehen. Er war es immerhin, der die geplante Stationierung als Erfolg für Deutschlands Sicherheit präsentiert hatte.
Die Brandenburger Genossen folgen aber lieber der Marschrichtung von Mützenich als der von Scholz. Der Fraktionsvorsitzende hatte von Anfang an Probleme mit den Raketenplänen. Durch sie bestehe die gesteigerte Gefahr einer unbeabsichtigten Eskalation. „Mir kommt die öffentliche Debatte über die weitreichenden Folgen dieser Entscheidung zu kurz. Darauf weise ich hin.“
In der Drohnen-Debatte setzte Mützenich sich durch
Das sehen bestimmt einige so in der SPD-Fraktion. Aber ihr Chef hat beschlossen, sie nicht auf Kanzlerlinie zu bringen, sondern den Zweifeln Futter zu geben. Zu Beginn der Ampelkoalition funktionierte die Arbeitsteilung zwischen Scholz und Mützenich noch, als der unter erheblichen Schmerzen eine klare Mehrheit für das Bundeswehr-Sondervermögen organisierte. Aber so funktioniert es jetzt nicht mehr.
Verteidigungsminister Boris Pistorius muss sich von Mützenich sagen lassen, er solle rhetorisch abrüsten und nicht so aus der Reihe tanzen. Pistorius hat kein Bundestagsmandat, er ist höchstens zu Gast in der Fraktion. Darauf wird unter den Abgeordneten hingewiesen. Kein Wunder, dass die Abgeordneten in den Haushaltsverhandlungen also darauf bestehen, dass Sicherheit nicht nur militärisch verstanden werden dürfe – eine Klatsche für die Pläne von Pistorius, mehr Geld für den Wehretat zu bekommen. Dafür macht sich aus Mützenichs Truppe niemand stark.
Auf keinem Politikfeld hat Mützenich so viel Macht ausgeübt wie im Bemühen, die deutsche Verteidigungsbereitschaft schwach zu halten. Seit Ende des vergangenen Jahrzehnts verhinderte der Kölner Pazifist erst als Außenpolitiker, dann als Fraktionsvorsitzender die Steigerung der Verteidigungsausgaben, die Ausstattung der Bundeswehr mit modernen Waffen und die Abkehr von der strategischen Energieabhängigkeit von Putins zunehmend autoritärem Regime. Wer Putin kritisierte, wie etwa der letzte SPD-Außenminister Heiko Maas, bekam es mit Mützenich zu tun. Und das bedeutete: das Ende der Karriere.
Vor allem die Ausstattung der Streitkräfte mit den inzwischen schlachtfelddominierenden Drohnen verzögerte Mützenich über Jahre. Vergeblich versuchten die Verteidigungsministerinnen Ursula von der Leyen und dann Annegret Kramp-Karrenbauer (beide CDU), diesen Widerstand zu brechen. Obwohl sie dabei Verteidigungspolitiker der SPD auf ihrer Seite hatten, darunter den Fraktionsobmann Fritz Felgentreu und auch den Wehrbeauftragten Hans-Peter Bartels, und alle Register politischer Überzeugungskunst zogen – am Ende behielt Mützenich in der Drohnen-Debatte die Oberhand.
Im Herbst 2020 schlug er eine internationale Konferenz zur Ächtung von Drohnen vor. Die Anhebung des Verteidigungsetats lehnte er kategorisch ab, das sei „ein Tanz ums goldene Kalb“, meinte er Ende 2020.
Wenig Ahnung von der Bundeswehr
Noch im Oktober 2021, vier Monate vor dem russischen Überfall auf die Ukraine, warf er Kramp-Karrenbauer vor, sie drehe „an der Eskalationsschraube“. Nicht etwa Putin. Es gelte vielmehr, so Mützenich, „Chancen zur Entspannung“ auszuleuchten. Das Zwei-Prozent-Ziel der NATO nannte Mützenich zur gleichen Zeit „absurd“. Die Grünen-Forderung, Nord Stream 2 nicht weiterzubauen, sei „an Scheinheiligkeit nicht zu überbieten“, sagte Mützenich im April 2021.
Während in der Ukraine täglich Tausende bewaffnete Drohnen im Einsatz sind, besitzt die Bundeswehr nach wie vor keine einzige bewaffnete Drohne, das Werk Mützenichs und der SPD-Parteilinken. Geduldet wurde das vom damaligen Generalsekretär Lars Klingbeil, aber auch vom Kanzlerkandidaten Olaf Scholz, die ebenfalls mit zusahen, wie Mützenich in der Fraktion seine Macht dazu nutzte, den Fachmann Felgentreu in den Rücktritt zu treiben, den umstrittenen, aber rüstungspolitisch sachkundigen Haushälter Johannes Kahrs aus dem Bundestag zu drängen und den Wehrbeauftragten Hans-Peter Bartels abzusägen.
An ihrer Stelle installierte Mützenich mit der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Gabriela Heinrich und der neuen Wehrbeauftragten Eva Högl Parteilinke, die von Sicherheitspolitik wenig Ahnung und zur Bundeswehr keine Beziehung hatten. Heinrich, zuständig für Außen- und Verteidigungspolitik, hat sich seit Beginn des Ukrainekriegs kaum zur Außen- und Verteidigungspolitik geäußert. Mehrere Anfragen der F.A.Z., wann und wo sie seit 2020 die Bundeswehr besucht habe, ließ sie unbeantwortet.
Auch der Felgentreu-Nachfolger Wolfgang Hellmich, ein freundlicher älterer Herr, tauchte in keiner öffentlichen Debatte seit Anfang 2022 auf. Unter Hellmichs 27 Pressemitteilungen seit Kriegsbeginn findet sich auf seiner Internetseite keine einzige zum Thema Verteidigung. Dabei war Hellmich lange Vorsitzender des Verteidigungsausschusses und bis vor wenigen Tagen verteidigungspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion.
Heiko Maas konnte sich auch nicht durchsetzen
Als Scholz Anfang 2022 unter dem Eindruck des russischen Überfalls auf die Ukraine ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr durchsetzte, sorgte Mützenich zwar für die Mehrheit in der Fraktion, aber auch dafür, dass an die Spitze des Begleitgremiums mit Wiebke Esdar eine Politikerin rückte, die noch nie etwas mit Rüstung und Verteidigung zu tun hatte.
Obwohl sie als Vorsitzende die Ausgaben eines einzigartigen Fonds zu kontrollieren und begleiten hat, taucht dieses Engagement unter ihrer Rubrik „Meine Schwerpunkte in Berlin“ auf der Internetseite gar nicht auf. Unter Dutzenden Fotos gibt es dort keines, das die Sozialdemokratin mit Soldaten zeigt. Zur Bundeswehr hat sie bislang nichts zu sagen. Mützenichs Kaderpolitik im Gewande äußerlicher Liebenswürdigkeit scheiterte nur bei Högl, der es als Wehrbeauftragte gelungen ist, sich von Mützenichs Kurs zu emanzipieren.
Seine Haltung gegenüber Moskau rief Mützenich und andere Parteilinke auf den Plan. Im Herbst 2018 geriet eine Vorstandsklausur zum Show-down, Maas erlitt gegen Mützenich, dem damals schon Ralf Stegner und Manuela Schwesig assistierten, eine schwere Niederlage. Der Minister verkenne, hieß es seinerzeit von Mützenich, dass Russland doch gerade beginne, sich zu ändern, es gelte „das Momentum zu nutzen“. Und Lars Klingbeil, damals Generalsekretär, wurde mit den Worten zitiert, die SPD müsse sich „als Friedenspartei wieder entdecken“. Seitdem hielt Maas sich zurück, 2021 verlor auch er sein Amt, sang- und klanglos.
Wird an all das nun wieder angeknüpft, mit dem neuen Generalsekretär Miersch und durch die Zusammenarbeit mit dem BSW? Mützenich konnte ein Lächeln nicht verbergen, als er kürzlich im „Bericht aus Berlin“ feststellte, dass nun plötzlich alle über mehr Diplomatie im Ukrainekrieg sprächen. Weil auch Scholz das tut, dürfte sich Mützenich in seinem Kurs zusätzlich bestätigt fühlen.
Die Fraktion hat Angst, zu schrumpfen
Er beteuert unentwegt seine Loyalität gegenüber dem sozialdemokratischen Kanzler. Aber er tut es auffälligerweise genau so: abstrakt, fast unpersönlich. „Damit die SPD gut aus der nächsten Bundestagswahl hervorgeht, kommt es vor allem auf den Kanzler an.“ Mützenich treibt Scholz weiter an. Die Schuldenbremse? Für Mützenich ist deren Aussetzung immer noch nicht vom Tisch. Nach der ernüchternden Steuerprognose sagte der Fraktionsvorsitzende in der „Süddeutschen Zeitung“, Scholz „muss diese Fragen weiterhin und noch deutlicher zur Chefsache machen“.
Mützenich ist weiterhin loyal. Bis an die Grenze der Selbstverleugnung, wie er es ausdrückt. Der Kanzler hat aber auch einen Teil zu Mützenichs Machtzuwachs beigetragen. Indem nämlich die Regierung schlecht gemachte Gesetzesvorhaben vorlegte, die von den Fraktionen repariert werden mussten. Solch ein Schlüsselmoment war im Januar, als die Frage im Raum stand, ob Bauern das Land lahmlegen könnten, weil sie gegen die geplante Streichung bei den Vergünstigungen für Agrardiesel demonstrierten.
In der SPD heißt es, man sei damals am Rande einer Staatskrise gewesen. Verhindert worden sei die von Mützenich und den anderen Fraktionsvorsitzenden Britta Haßelmann (Grüne) und Christian Dürr (FDP). Denn sie luden die Bauernverbände zum Gespräch ein und versprachen Reparaturen an den Regierungsplänen. So war es auch schon beim Heizungsgesetz gewesen.
Mützenich ist in seiner Funktion auch Brückenbauer, und er kanalisiert die Pläne des Kanzlers zu seiner Fraktion und andersherum. Mützenich sieht aber auch die Grenzen der Geduld in der SPD-Fraktion. Es schwingt auch Angst mit: Die Fraktion könnte sich bei einer Neuwahl halbieren, angesichts der Umfragen. Alle Abgeordneten werden sich daran erinnern, wie schon andere SPD-Kanzler schlussendlich an den eigenen Leuten gescheitert sind.
Mützenich, der sich als leidenschaftlicher Parlamentarier beschreibt, gewinnt an Beliebtheit, indem er seinen Leuten dieses Selbstbewusstsein gibt. Dabei greift ihm hin und wieder jemand unter die Arme. Wenn er schon den Kanzler um 7 Uhr zum Haushaltsrapport einbestelle, dann sollte es wenigstens belegte Brötchen geben, gab ihm eine SPD-Frau aus der Parteispitze als Tipp. Mützenich, freundlich, wie er ist, verstand sofort. Und bestellte die Brötchen.