Ogunleye ist dankbar für Platz sechs nach einem “verrückten Jahr” – Sport | ABC-Z

Auf Gefühle kann man sich nicht vorbereiten, auch wenn man sie so ähnlich schon einmal erlebt hat. Fast eine Stunde lang war Maddison Lee-Wesche am Samstagabend Weltmeisterin von Tokio, eine ähnliche Situation wie vor einem Jahr: Da war die Neuseeländerin fast eine Stunde lang Olympiasiegerin von Paris. Gut, die Kugelstoß-Wettbewerbe liefen jeweils noch, aber ein leises Glücksgefühl schleicht sich unweigerlich ein, wenn man 20,06 Meter gestoßen hat und alle anderen Athletinnen lange nicht kontern können. Und manchmal hält das Schicksal dann genauso so etwas parat: Dass sich im letzten Versuch plötzlich noch einmal alles dreht.
Eine Hoffnung, die auch Yemisi Ogunleye in sich trug, bis zu diesem sechsten Versuch. Sie ist es ja, die Lee-Wesche vor einem Jahr den Olympiasieg weggeschnappt hatte. Und da stand sie nun im Nationalstadion von Tokio, schloss noch einmal die Augen, sprach sich selbst Mut zu. Die Kugel flog, Ogunleye lachte. Doch es blieb dabei: Ihre beste Weite an diesem Tag waren 19,33 Meter, das bedeute Rang sechs. Ein Grund für schlechte Laune war das für die 26-Jährige allerdings nicht. „Ich habe abgerufen, was ich konnte heute Abend. Platz sechs bei einer Weltmeisterschaft, da muss ich mich nicht in der Welt verstecken“, sagte sie. Tatsächlich war es diesmal die Niederländerin Jessica Schilder, die Lee-Wesche noch verdrängte und mit 20,29 Metern Gold gewann, auch die US-Amerikanerin Chase Jackson nutzte noch die Gunst des letzten Stoßes (20,21 Meter). Lee-Wesche blieb Bronze.
:Unbeschwert zu Silber getanzt
20 Jahre nach Markus Esser gelingt in Merlin Hummel einem Deutschen wieder eine WM-Medaille im Hammerwurf. Der 23-Jährige holt mit persönlicher Bestweite Silber in Tokio, sein Trainer sagt: Da geht noch mehr.
In der Qualifikation am selben Morgen war Ogunleye mit 19,65 Metern im ersten Versuch noch die größte Weite gelungen, ein energieschonender Auftakt. Und einer, der ihr Mut machte, schließlich konnte Ogunleye trotz ihres Triumphs vom Vorjahr nicht als Medaillenfavoritin anreisen. Als Vierte der Welt mit der Bestweite von 20,27 Metern aus der Hallensaison hatte die Germersheimerin immer wieder Fragen beantworten müssen, wie ihr Blick auf die starke Konkurrenz ausfalle, die sich oft stärker präsentierte. „Man hat schon gesehen, wie die Leistungen bei denen, die in Paris nicht so performt haben, jetzt in die Höhe sprießen“, sagte Ogunleye dann. Und fand: „Sie sind unter Zugzwang.“
Gleich drei Deutsche hatten es im Kugelstoßen ins WM-Finale geschafft
Der Wettkampf, der sich am Abend in Tokio entwickelte, war dann einer, der eher für die Deutsche als gegen sie sprach: Mit 19,33 Metern im ersten Versuch positionierte sie sich in Lauerstellung, lag zur Halbzeit auf Rang vier und auf den Medaillenplätzen spielte sich lange nichts ab, was sie nicht auch selbst noch hätte umbiegen können. Bis zum letzten Versuch war alles offen, und Ogunleye ging die Sache mit Spaß an, lächelte vor ihren Stößen, sprach noch ein paar Gebete. Der Glaube an Gott hatte sie in Paris beflügelt, sagte sie, als sie ihre letzte Chance mit einem Stoß auf genau 20 Meter genutzt hatte und dann selbst fassungslos war. „Ich glaube, dass es Engel waren, die die Kugel da hingetragen haben“, sagte sie danach.
Aber so richtig reinkämpfen in diesen Wettkampf konnte sich Ogunleye in Tokio nun nicht. „Ich war einfach müde auf den Beinen und dann passt die Technik vorn und hinten nicht“, sagte sie. Vor fünf Jahren hat Ogunleye diese Technik umgestellt, vom Angleiten zur Drehstoßtechnik, das kam auch ihrem lädierten Körper entgegen, immer wieder machte das rechte Knie Probleme. Und die Umstellung stand gleichzeitig für den Aufbruch in das moderne Kugelstoßzeitalter bei den Frauen. Drehstoßen ist technisch anspruchsvoller als Angleiten, kleine Fehler entfalteten in Paris nun große Wirkung. Aber Ogunleye lenkte den Fokus dann lieber auf das gesamte deutsche Kugelstoß-Team: Dass sie zusammen mit Katharina Maisch (Rang elf) und Alina Kenzel (10.), zu dritt dieses Finale bestritten hatte, machte sie stolz, „ich weiß nicht, wann es das letzte Mal so war in Deutschland.“ Die Stärke ihrer Disziplin lag diesmal in der Breite. Für den Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) bleibt es dabei vor dem letzten Wettkampftag bei drei Silber-Medaillen in Tokio.
Das Leben von Yemisi Ogunleye ist seit dem Olympiasieg ein anderes geworden, sie wird auf der Straße erkannt und angesprochen, bekam einen großen Sponsorenvertrag, mehrere Auszeichnungen. Und sie musste lernen, bei allem Trubel auf die Ressourcen des Körpers zu achten. Eine Mandelentzündung bremste Ogunleye in der Saisonvorbereitung aus, später schmerzte die Achillessehne. Von einem „verrückten Jahr“ sprach sie nun auch in Tokio. „Nach so einem Olympiasieg stehen erst mal ganz viele andere Termine an als das Training selber“, sagte Ogunleye, „das muss man auch einfach nutzen, weil man in Deutschland meist nicht so gut abgesichert ist. Das war erst mal der Fokus.“ Also genoss sie den Moment und alle angenehmen Folgeerscheinungen, die viele Sportler – wenn überhaupt – nur einmal in ihrer Karriere erleben können.
Sich selbst nicht allzu viel Druck zu machen und vor allem mit Spaß dieses Finale zu bestreiten, das hatte sich Ogunleye gewünscht und schließlich selbst erfüllt. Diesmal war sie es, die der Konkurrenz applaudierte. „Die Mädels vorn waren einfach super stark und das erkenne ich auch einfach an. So eine Leistung auf so einem stabilen Niveau zu haben, dauert seine Zeit im Drehstoß. Die Geduld habe ich auch mit mir“, sagte Ogunleye. Was sie in der Auseinandersetzung mit Gott auch gelernt hat, soll ihr dabei helfen: Sie wird schon geliebt, „unabhängig davon, wie weit die Kugel fliegen wird.“





















