Österreichische Literatur: Die Unerhörten | ZEIT ONLINE | ABC-Z

Sonne in Wien, großer blauer Himmel, die weißen Häuser um die Hofburg herum leuchten im Morgenlicht. Die Welt ist eine große Kulisse, und wir alle etwas zu klein geratene Schauspieler. Wien ist eine literarische Stadt, die Opposition kommt aus der Kunst, der Kampf gegen die Welt, so wie sie ist, wird von der Theaterbühne herab gekämpft. Die Auseinandersetzung mit der rechtsextremen FPÖ ist jahrzehntelang so etwas wie österreichische Folklore gewesen. Die Partei selbst, spätestens mit der unfreiwilligen Teilnahme ihrer Protagonisten am sogenannten Ibiza-Video, selbst Teil des österreichischen Welttheaters.
Doch jetzt wird das Drama plötzlich Wirklichkeit. Die FPÖ steht, nach jahrzehntelanger Vorbereitung, kurz davor, mithilfe der konservativen ÖVP die Regierung zu übernehmen. Und – aus deutscher Beobachterferne – wirkt alles irgendwie so leise. Wo ist die Kunst, die Literatur, der Lärm, der Gegenangriff? War denn bislang alles nur Spiel? Ein Schaukampf? Um das zu erfahren, bin ich sozusagen in die Literatur hineingefahren, habe in Wien junge Schriftstellerinnen getroffen, deren Werk literarisch herausragend und politisch explosiv ist. Und ihre Vorkämpferin, jahrzehntelang die lauteste, mutigste, meistgehörte, meistgehasste und gefürchtete, die Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek. Fast dreißig Jahre ist es her, dass die FPÖ Wien mit riesigen Plakaten gegen sie beklebt hatte. Fünfundzwanzig Jahre, dass sie vor Tausenden auf dem Stephansplatz auftrat, als die FPÖ zum ersten Mal an der Regierung beteiligt wurde und 14 EU-Staaten daraufhin Sanktionen gegen Österreich verhängten. Wie lange ist das her.
Ob sie nicht etwas schreiben wolle, so kurz vor der wahrscheinlichen Kanzlerschaft Herbert Kickls, hatte ich die heute 78-Jährige per Mail gefragt. „Nein, da ist nix mehr zu schreiben übrig“, hatte sie geantwortet. „Der Worte (auch meine) sind genug gewechselt. Jetzt liegen sie als wertloser Haufen Blech beim Schalter herum (auch meine).“ Aber besuchen könne ich sie. Es müsse aber privat bleiben, schrieb sie, sie gehe halt fast nicht mehr raus, aber zu ihr kommen, ja, das ginge. Sie müsse mich aber warnen, sie sei wahnsinnig langweilig.
Es ist dann natürlich das Gegenteil von langweilig geworden, Elfriede Jelinek ist nach wie vor so geistesgegenwärtig, humorvoll, kämpferisch und bei aller Altersmelancholie auch lustig wie eh und je, sie liest immer noch vor allem Krimis, ihre liebsten immer wieder aufs Neue, sie sagt: „Ich bin vielleicht nicht die beste Schriftstellerin aller Zeiten, aber die am besten angezogene bin ich schon“, womit sie ziemlich sicher recht hat. Und sie schreibt unaufhörlich. Ihr Trump-Stück Endsieg wurde in Hamburg uraufgeführt, noch bevor der neue Präsident wieder im Amt war. Aber jetzt so direkt zu Kickl, nein, das scheint ihr fad. So lange kennt sie den schon, noch als Redenschreiber vom Haider, ihrem alten Feind, wie lange ist der schon tot. Außerdem umkreise sie die Politik ja lieber, als direkt über sie zu schreiben. „Wie Ezra Pound“, sagt sie. Im letzten Jahr hatte sie geschrieben: „Wir sollen also die Revolte sein, obwohl Kunst in meinen Augen nichts bestimmen oder verändern kann, in meinem Hirn aber schon.“ Das Hirn verändern durch die Kunst. Daran hält sie natürlich fest. Das ist ja ihr Leben. Sie stellt ja seit vielen Jahren schon alles, ihre Reden, Stücke, Romane und Erinnerungen, auf ihre eigene Homepage. Fortlaufende Protokolle des Widerstands. Zum 80. Jahrestag des Kriegsendes schreibt sie fürs Schauspiel Bochum ein neues Stück. Auch darin geht es darum, die Geschichte lebendig zu halten, die Formeln der Erinnerungsrituale zu sprengen. „Indem man eben nicht von ihr spricht, sondern von etwas, das tot ist, lebt sie in Wirklichkeit fort“, hat sie geschrieben.
Unterdessen triumphieren draußen diejenigen, die lange schon genug haben von diesem alten Erinnerungstheater. Und sich ganz neu erinnern wollen. Stolz und strahlend. Die Gewissheit, dass „wir“ mehr sind, das emphatische „wir“ der FPÖ-Gegnerschaft, ist lange schon zerstoben. Waren wir es je? Sie lässt die neue Mehrheit in ihrem bislang letzten Text auf ihrer Seite im Netz sprechen: „Wir werden Nachsicht walten lassen, aber nicht mehr lang. Die vielen zählen nicht mehr, denn wir sind jetzt da. Wir sind alle.“
Alle noch nicht. Aber viele. Und nur wenige demonstrieren. „Ich fühle mich auf den Demos alleingelassen“, sagt die Schriftstellerin Julia Jost. Die alten Donnerstagsdemos, zu denen nur so wenige kommen. „Wo sind denn die Jungen? Die Studierenden?“, fragt sie. Wir treffen uns im Café Prückel, einem herrlichen alten Kaffeehaus im 1. Bezirk. Jost hat im vergangenen Jahr den genialen Kärnten-Roman Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht geschrieben. Über das Aufwachsen auf dem Land in Kärnten, wo die historische Erinnerung immer schon eine andere als die staatliche war, wo sich der Großvater der Erzählerin noch nach dem Krieg verzweifelt um ein SS-Tattoo bemühte. Es ist kein Anti-Heimatroman, den Jost geschrieben hat. Sondern einer, der aus einer Liebe zu dieser Landschaft geschrieben zu sein scheint und aus dem Schmerz heraus, dass in diese Landschaft, in die Menschen dort ein Unheil eingewebt ist, aus dem es kaum ein Entkommen gibt. Es sei denn, man flieht aus den vererbten falschen Träumen.
Jost selbst ist schon mit 14 Jahren allein nach Wien gezogen, zunächst in ein Internat, mit 17 dann in eine WG. Sie hat bei Monika Bonvicini Bildhauerei studiert, bei Luk Perceval Regie gelernt. Sie sagt: „Ohne die Literatur von Elfriede Jelinek und ihre Aktivität wäre meine Jugend in diesem Land sehr viel düsterer ausgefallen.“ Ihre Literatur habe sie einst „mitgerissen“. Mit diesem Schwung kam sie selbst in die Kunst, ins Schreiben. Den anderen Antrieb zum Schreiben verdankt sie ihrer Herkunft: „Ich komme aus einer Täterfamilie, ich sehe die Verantwortung zu 100 Prozent bei mir.“
Die meisten, denen man in diesen Tagen in Wien begegnet, scheinen noch in einer Art Schockzustand zu sein. In einem Stadium des Unglaubens, dass die gemäßigten Parteien wirklich in all ihrer Blindheit und Verantwortungslosigkeit der FPÖ die Macht sozusagen schenken. „Wir leben in Österreich längst in einem großen Ibizavideo“, sagt David Schalko am Abend im Gasthaus Wolf. Schalko ist ein umfassender österreichischer Rundum-Künstler, Produzent der erfolgreichen Late-Night-Show Willkommen Österreich, er hat die geniale Fernsehserie Braunschlag geschrieben und zuletzt Kafka mit Daniel Kehlmann, außerdem die Romane Weiße Nacht und Schwere Knochen. Hier im Gasthaus Wolf sind viele Freunde da, man redet über die Tische hinweg, reicht Wein von hier nach da, später wird nach Herzenslust geraucht, beim Davongehen verabschieden sich alle hier am Tisch mit der Formel „Ich bin betrunken“.