Oblique Seville gewinnt WM-Finale im Sprint über 100 Meter in (*100*) | ABC-Z

Wer Noah Lyles vor dem WM-Finale über die 100 Meter reden hörte, konnte denken, das Rennen sei schon längst entschieden. „Ich weiß nicht, warum mich jemand schlagen sollte“, sagte der US-amerikanische Weltmeister der „Bild“-Zeitung: „Ich habe keinen Druck. Die anderen haben Druck, sie müssen mich schlagen.“ Das mochte zwar stimmen, doch große Worte können auch seltsam wirken, wenn im entscheidenden Moment das Ergebnis nicht passt.
Alles hatte nach einem Duell zwischen dem Titelverteidiger und Kishane Thompson ausgesehen. Bei den nationalen Meisterschaften war der Jamaikaner Ende Juni die 100 Meter in 9,75 Sekunden gelaufen. Seit zehn Jahren war über diese Distanz keiner schneller als er, der damit der sechstschnellste Mann der Geschichte ist. Es konnte als eine Kampfansage an Lyles verstanden werden, der wegen einer Fußverletzung erst Mitte Juli in die Saison eingestiegen war und seitdem lediglich fünf Wettkämpfe über die 100 Meter absolviert hat.
Doch im WM-Finale waren Lyles und Thompson so auf ihr Duell auf den mittleren Bahnen fokussiert, dass sie einen anderen Jamaikaner aus den Augen verloren. Oblique Seville hatte sich in den Kopf gesetzt, zum Saisonhöhepunkt über sich hinauszuwachsen: In persönlicher Bestzeit von 9,77 Sekunden stürmte er als Erster über die Ziellinie. Silber ging mit 9,82 Sekunden an Thompson, Bronze mit 9,89 Sekunden an Lyles.
„Ich habe bewiesen“, sagte Seville, „dass ich die Entschlossenheit eines Champions habe.“ Das Tempo auf den letzten 30 bis 40 Metern hochzuhalten, sei etwas gewesen, mit dem er die ganze Saison über zu kämpfen hatte: „Jetzt habe ich es perfektioniert und war zuversichtlich, dass ich gewinnen würde, wenn ich es im Finale schaffen würde, das umzusetzen.“ Leichtathletik sei sowohl eine mentale als auch eine körperliche Herausforderung. „Andere Leute tun und sagen andere Dinge, aber ich konzentriere mich nur auf mich selbst, und deshalb habe ich diesen Sieg errungen.“
Auch bei den Frauen schienen die Rollen vor dem Finale klar verteilt zu sein: Die US-Amerikanerin Melissa Jefferson-Wooden war in diesem Jahr so konstant wie keine andere Sprinterin. Bei den US-Meisterschaften stürmte sie in 10,65 Sekunden zum Titel – eine Zeit, mit der sie auf Platz fünf der ewigen Bestenliste steht. Über die 100 Meter blieb die 24-Jährige gar ungeschlagen. Das letzte Mal, dass sie nicht über diese Distanz gewann, war 2024 bei den Olympischen Spielen – ausgerechnet gegen Alfred.
Das sollte ihr nicht wieder passieren. Die US-Amerikanerin erwischte den besseren Start und konnte bereits auf den ersten Metern einen deutlichen Vorsprung auf Alfred erlaufen. Diese versuchte, nochmals heranzukommen, wurde aber stattdessen von der heranrauschenden Tina Clayton überholt. Für Alfred reichte es in 10,84 Sekunden noch zu Bronze, Clayton lief in 10,76 Sekunden zu Silber – aber Jefferson-Wooden hatte etwas, das die anderen an diesem Abend nicht hatten: Momentum. In neuer Meisterschaftsrekordzeit von 10,61 Sekunden gewann sie ihren ersten WM-Titel.
„Heute ging es nur um mich, darum, meinen Fähigkeiten, meinem Trainer und der mir vorgegebenen Linie zu vertrauen. Darauf, dass ich auf diesen Moment vorbereitet war“, sagte Jefferson-Wooden auf der anschließenden Pressekonferenz: „Ich habe von diesem Moment geträumt. Anstatt mich selbst unter Druck zu setzen und es als etwas Überwältigendes zu betrachten, habe ich es einfach angenommen.“