Obdachlose Frauen: Flucht vor Gewalt auf die Straße | ABC-Z
Durch den Mangel an Wohnraum sind Frauen*häuser überbelegt. Für von Gewalt betroffene Flinta bedeutet das oft: Obdachlosigkeit oder Zurück zum Täter.
BERLIN taz | In einem kleinen Büro in Neukölln sitzt Selina Hoefner vor ihrem Bildschirm, den Hörer am Ohr. „Leider werden wir so schnell keine Wohnung finden,“ sagt sie der Person am Telefon. Sie legt auf und fährt sich nachdenklich durchs Haar. Hoefner arbeitet für den gemeinnützigen Verein asap, der gewaltbetroffene Flinta* (Frauen, Lesben, intersexuelle, nicht-binäre, trans und agender Personen) unterstützt, die von akuter Wohnungslosigkeit betroffen oder bedroht sind.
Der Name „asap“ steht für „abusive structures aren’t private“ und soll auf die strukturelle Komponente häuslicher Gewalt aufmerksam machen. „Die Wohnraumversorgung für gewaltbetroffene Flinta* ist von einem Nischenthema zu einem zentralen Punkt im Antigewalt-Bereich geworden,“ sagt Hoefner. Seit der Gründung des Vereins vor drei Jahren erhält er immer mehr Anfragen von Flinta*, die Unterstützung benötigen.
Die sieben Gründerinnen von asap haben zuvor beim Projekt „Wohnungsvermittlung für Frauen* aus Gewaltsituationen“ aus den 1990er Jahren gearbeitet. Waren es dort 2015 noch weniger als 100 Anfragen im Jahr, so sind es jetzt um die 600.
Wenn Betroffene einer Gewaltbeziehung entfliehen möchten, gibt es verschiedene Möglichkeiten, in Schutzräumen Zuflucht zu suchen. Der Kontaktaufbau geschieht oft unter schwierigen Umständen und muss vor dem Täter geheim gehalten werden. Hat eine Betroffene einen Platz in einem Frauen*haus oder einer sicheren Zufluchtswohnung gefunden, ist der nächste Schritt, eine längerfristige Bleibe zu finden.
Keine Wohnungen für schutzsuchende Frauen
Und genau da liegt das Problem: „Es gibt einfach keine Wohnungen mehr, die wir schutzbedürftigen Flinta* vermitteln können,“ sagt Hoefner. Durch den Mangel an bezahlbarem Wohnraum sind Frauen*häuser seit Jahren überbelegt und alle Zufluchtswohnungen besetzt.
Teilweise kommen die Betroffenen für kurze Zeit bei Freund*innen unter. Oft haben sie auch ihre Kinder dabei und leben in dieser Zeit sehr prekär. „Wohnungslosigkeit bei Frauen* unterscheidet sich wesentlich von der männlichen,“ erklärt Hoefner.
Wohnungslose Frauen* versuchen oft, ihre Notlage zu kaschieren und ertragen lange Zeit sehr viel, bevor sie sich Hilfe suchen. Nicht selten sind sie gezwungen, auf sogenannte ASOG-Unterkünfte, also bezirkseigene Not- und Gemeinschaftsunterkünfte auszuweichen.
Dort sind sie dann gezwungen, sich die Räume mit Männern zu teilen. Oft gibt es keine separaten Schutzräume und das Personal ist nicht für das Thema sensibilisiert. Das betrifft besonders trans*, inter* und nicht-binäre Personen. In gemischtgeschlechtlichen Notunterkünften fühlen sich viele unsicher, was die ohnehin schon schwierige Situation noch verschärft. Nicht wenige gehen nach schlechten Erfahrungen in den Unterkünften zurück auf die Straße.
Istanbul-Konvention nicht umgesetzt
Die Istanbul-Konvention sieht den Schutz und die bedarfsgerechte Unterstützung aller gewaltbetroffenen Frauen* vor – flächendeckend und kostenfrei. Die Konvention ist ein völkerrechtliches Übereinkommen, das Deutschland 2018 unterschrieben hat. Doch die Realität sieht anders aus. Bisher fehlt es an einer politischen Gesamtstrategie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Flinta*.
Zahlen Frauen sind zunehmend von Wohnungs- und Obdachlosigkeit betroffen. Wie viele es genau sind, kann nur geschätzt werden. Expert*innen gehen davon aus, dass etwa 20 Prozent aller obdachlosen Menschen Frauen sind. In Berlin wird die Zahl auf 2.000 geschätzt.
Angebote Die einzige 24/7-Frauennotunterkunft in Berlin ist das Happy Bed Hostel am Halleschen Ufer. Die 65 Zimmer sind schnell belegt. Daneben gibt es vier ganzjährige Notübernachtungen für Frauen mit insgesamt 59 Plätzen. Das Housing-First-Projekt für Frauen vermittelt bedingungslos eine Wohnung, die Warteliste ist allerdings lang und die Angebote sind rar gesät. Speziell für obdachlose Frauen gibt es außerdem eine Beratungsstelle der Gebewo sowie den Beratungs- und Hygienebus „Duschmobil“. (mfr)
Zum einen fehlen ausreichend Plätze in Frauen*häusern. Die Istanbul-Konvention schreibt 2,5 Schutzplätze für Frauen und deren Kinder pro 10.000 Einwohner*innen vor. Für Berlin wären das rund 920 Schutzplätze. In den acht Frauenhäusern in der Hauptstadt gibt es insgesamt jedoch nur 462 Plätze – also gerade einmal die Hälfte.
Zum anderen mangelt es an niedrigschwelligen und der Lebenslage angepassten Angeboten. Gerade Betroffenen mit Sprachbarrieren und unsicherem Aufenthaltsstatus fehlt ein einfacher Zugang zum Hilfesystem. „Der Schutz vor Gewalt ist keine Sozialleistung, sondern eine menschenrechtliche Verpflichtung,“ betont Selina Hoefner.
Neben bürokratischen Hürden bei der Wohnungssuche, etwa bei der Beschaffung eines Wohnberechtigungs-Scheins, erfahren die Betroffenen oft erneute Hindernisse, wenn sie ihren Fall anzeigen wollen. Diskriminierende Erfahrungen erschweren den Vertrauensaufbau zu den unterstützenden Personen.
Immer mehr Frauen von Gewalt betroffen
Nicht selten kommt es in den Gerichtsverfahren zu „Victim Blaming“, bei dem die Schuld von den Tätern auf die Betroffenen abgewälzt wird. Für die kann das stark retraumatisierend wirken. „Manche gehen auch zurück zum Täter und zurück in die Gewaltbeziehung, weil sie keine Perspektive haben,“ erklärt Selina Hoefner.
Im Durchschnitt erfährt jede dritte Frau* in Deutschland mindestens einmal im Leben häusliche Gewalt. Zwei Drittel der Betroffenen erleben die Gewalt innerhalb einer (Ex-)Partnerschaft, ein Drittel in der Familie. Die Anzahl der Betroffenen ist in den vergangenen fünf Jahren um 17,5 Prozent angestiegen und erreichte 2023 einen neuen Höchststand.
Laut der kriminalstatistischen Auswertung des Bundeskriminalamts waren im vergangenen Jahr 132.966 Frauen von Gewalt in einer Partnerschaft betroffen. Knapp 13.000 wurden dabei von ihren (Ex-)Partnern schwer oder gefährlich körperlich verletzt. 4.622 Frauen erlebten sexualisierte Gewalt, 331 wurden Opfer von versuchtem Mord oder Totschlag und 155 wurden durch ihren (Ex-)Partner getötet.
„Viele dieser Taten werden gar nicht angezeigt, sodass die polizeiliche Kriminalstatistik den tatsächlichen Umfang nur bedingt widerspiegelt,“ weiß Selina Hoefner. „Die Gewalt fängt nicht erst beim physischen Schlag an, sondern betrifft alle Handlungen körperlicher, psychischer, sexueller, sozialer und ökonomischer Gewalt.“
Ausbau von Frauen*haus-Plätzen nötig
Die Belastung, den Betroffenen keinen Schutzraum vermitteln zu können, ist enorm. Doch der Antrieb, sie in irgendeiner Weise unterstützen zu können, sei größer, sagt Hoefner. Was sie antreibt ist auch die Wut über eine Gesellschaft, die Mechanismen der Unterdrückung, alltäglichen Sexismus sowie psychische und physische Übergriffe zu dulden scheint. „Häusliche Gewalt ist kein individuelles Problem. Es ist gesamtgesellschaftlich bedingt und betrifft uns alle,“ sagt Hoefner.
Um dem Thema mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen, hat sie im vergangenen Jahr den Dokumentarfilm „Zuflucht Nehmen“ produziert, der häusliche Gewalt anhand von Erfahrungsberichten von Betroffenen und Sozialarbeiter*innen behandelt.
Was Das Kulturfestival zu Obdach- und Wohnungslosigkeit bietet jenen eine Bühne, an denen sonst schnell vorbeigeschaut wird. Im Zentrum stehen die Betroffenen selbst: bei einer Fotoausstellung, einer Theaterperformance, einer Audioinstallation oder einem Fest von Straßenmusiker*innen. Außerdem gibt es Infostände und Podiumsgespräche mit Initiativen, Sozialarbeiter*innen, Journalist*innen und Politiker*innen.
Wann 28 August bis 8 September
Wo An zwei öffentlichen Plätzen Berlins, dem Caligariplatz vor der Brotfabrik in Weißensee und dem Bahnhofsvorplatz Lichtenberg (mfr)
Frauen*häuser und Initiativen fordern, das im aktuellen Koalitionsvertrag angekündigte Gewalthilfegesetz endlich umzusetzen. Das sieht unter anderem den Ausbau von Frauen*haus-Plätzen vor. Laut dem Verein Frauenhauskoordinierung fehlen in Deutschland aktuell über 14.000 Plätze für eine bedarfsgerechte Versorgung.
Wie viele davon zurück in die gewaltvolle Beziehung gehen oder auf der Straße landen, weil sie keinen Schutz finden, ist nicht bekannt.