Nürnberger Prozess in Russland: Das Erbe von Nürnberg | ABC-Z

I m Russland Putins ist das Andenken an den Nürnberger Prozess nur ein Anlass für antiwestliche Propaganda. Auch das Forum „Ohne Verjährung. Nürnberg. 80 Jahre“ wurde dazu genutzt, den Westen erneut dessen zu bezichtigen, woran in Wahrheit die russische Macht selbst schuldig ist – nämlich die Lehren des Prozesses nicht gezogen und die eigenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht verurteilt zu haben.
1945 bestand die SU auf einem internationalen Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher. Doch Stalin stellte sich diesen Prozess im Geist der Moskauer Schauprozesse vor – als grandioses Spektakel mit einem von vornherein feststehenden Urteil.
Nicht zufällig wurde zur Leitung der sowjetischen Delegation in Nürnberg eine Regierungskommission unter Kontrolle eines der wichtigsten Juristen Stalins, Andrei Wyschinski, geschaffen. Er war – wie auch andere sowjetische Ankläger – Organisator des Massenterrors der 1930er.
Irina Scherbakowa ist Vorsitzende der Organisation „Zukunft Memorial“. Von ihr erscheint aktuell bei Droemer das Buch „Der Schlüssel würde noch passen. Moskauer Erinnerungen“.
Wyschinski stellte auf Anweisung des Kremls eine Liste für Moskau heikler Themen zusammen, die während des Prozesses nicht zur Sprache kommen durften. Am gefährlichsten waren Fragen über den Hitler-Stalin-Pakt und seine geheimen Zusatzprotokolle, über die Teilung Polens und die Okkupation der baltischen Staaten.
Massaker von Katyn
Ein schmerzhaftes Thema war Katyn – die Ermordung von 20.000 polnischen Offizieren im Jahr 1940. Die sowjetische Seite versuchte gefälschte Beweise vorzulegen und den Deutschen die Schuld zuzuschieben – jedoch so wenig überzeugend, dass das Tribunal diese Version nicht in das Urteil aufnahm.
Trotz dieser Vorbereitung verlief der Nürnberger Prozess nicht nach Stalins Plan: mit echter Verteidigung für die Angeklagten, langen Verhören und Zeugenaussagen. Die Angst vor Parallelen zwischen dem Nationalsozialismus und dem stalinistischen Regime führte dazu, dass die vollständige Dokumentation der Nürnberger Prozesse für sowjetische Bürger lange unzugänglich blieb.
Dies zeugte von doppelter Moral: Die UdSSR verurteilte Verbrechen des Nationalsozialismus, war aber selbst ein totalitärer Staat. Sowjetische Bürger, die in Nürnberg als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt worden waren – Kriegsgefangene und Ostarbeiter – wurden nach der Rückkehr als „Verräter“ behandelt.
Dokumente über den Holocaust wurden geheim gehalten: Der staatliche Antisemitismus verschwieg den Genozid an den Juden; Inschriften an Orten der Massenvernichtung sprachen lediglich von „ermordeten friedlichen sowjetischen Bürgern“.
Verhängnisvolles Vakuum
Erst in der Perestroika stellte sich mit aller Schärfe die Frage: Braucht Russland sein eigenes Nürnberg? Und wie lässt sich die Verantwortung für die Verbrechen des Staates juristisch definieren? Doch eine Antwort fand sich aus verschiedenen politischen Gründen nicht. Die Folgen dieses Vakuums erwiesen sich als verhängnisvoll für die Zukunft Russlands.
Heute ist das Gedenken an den Prozess in Russland zur Grundlage für einen militanten Nationalismus geworden, zur Forderung, Russland den Status einer „Sieger-Großmacht“ nach dem Muster von 1945 zurückzugeben.
Die Lehren von Nürnberg werden als Rechtfertigung der Politik Stalins interpretiert. Deshalb wurde das Gesetz „gegen Rehabilitierung des Nazismus“ verabschiedet, das alle Kritik unter dem Vorwand des Schutzes des „Erbes von Nürnberg“ verbietet.
Doch das wahre Erbe von Nürnberg ist ein anderes. Das internationale Tribunal war die erste gerichtliche Verurteilung der Verbrechen eines Regimes – seiner politischen Führung, seiner Gewaltstrukturen, die nicht durch „Staatsinteressen“ gerechtfertigt werden können. Und genau dies ist die wichtigste Lehre, die auch für ein mögliches Gericht über die Verbrechen von Bedeutung ist, die Russland heute begeht.





















