Nur zweimal wird er zum peinlichen Onkel | ABC-Z

Berlin. Der britische Sänger zeigt sich in Berlin in Bestform. Nur sporadisch scheint die Diva durch, die sich von der Welt unverstanden fühlt.
Am Tag vor seinem Berlin-Konzert begab es sich, dass Steven Patrick Morrissey in Mitte im Kulturkaufhaus Dussmann vorbeischaute, wie er am Freitagabend den Fans im Tempdrom erzählt.
Der Sänger findet eine gut bestückte Musikabteilung vor („Incredible vinyl“), doch den eigentlichen Check besteht das Geschäft nicht. Denn das Morrissey-Sortiment ist angeblich ausgedünnt, ach was: nicht vorhanden.
Man könnte das als divenhafte Empfindlichkeit abtun, doch bei Morrissey schwingt dabei auch ein politischer Zensur-Subtext mit, eine etwas ermüdende „Nichts-darf-man-mehr-sagen“-Attitüde. Nuhr auf Englisch.
Teile seines Publikums hat Morrissey vergrault
In diesen Momenten, von denen es im Tempodrom zum Glück nur zwei gibt, mutiert der 66-Jährige zum peinlichen älteren Onkel, der mit seiner Streitlust jede Familienfeier aufmischt.
Spätestens seit 2016 ist Morrissey weltanschaulich abgedriftet. Er hat seine Sympathien für den Brexit, für Nigel Farage und für Donald Trump bekundet und die Loyalität seines Publikums mit xenophoben Sprüchen auf eine harte Probe gestellt. Ein Teil der Fangemeinde ging weg, und kommt auch nicht wieder.
Wie bei Wagner: Werk und Person muss man trennen
Die dabei gebliebenen Getreuen müssen es wie die Anhänger von Richard Wagner (oder Martin Luther) halten: das eindrucksvolle Werk fein säuberlich von der Person trennen.
In Berlin fällt das relativ leicht, weil Morrissey an diesem Abend nicht auf Krawall gebürstet ist. Er bedankt und verbeugt sich beinahe nach jedem Song, und wirft während der Zugabe „Irish Blood, English Heart“ sogar sein Hemd ins Publikum, punktgenau zum letzten Akkord des Stücks.
Der Vorfilm: Punk, Glamrock, Motown und Italopop
Begonnen hat die Show mit einem coolen Vorfilm (statt Vorgruppe oder Tierschutz-Schockwerbung): 35 Minuten rasant geschnittene Morrissey-Lieblingsmusik, neben den üblichen Verdächtigen (Bowie, New York Dolls) gibt es auch Italopop und Motown aus den sechziger Jahren.
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Morrisseys Marxismus: Ladendiebstahl als Notwehr
Das eigentliche Konzert startet mit „Shoplifters of the World Unite“, dem ersten von vier Smiths-Klassikern im Set. Ein gut aufgelegter Morrissey schwenkt Blumen, rasselt mit dem Tambourin, und schleudert die Mikrofonschnur wie ein Cowboy das Lasso.
Er ist ganz versunken in seine Songs, gut bei Stimme, wird druckvoll angeschoben von einer relativ jungen, fünfköpfigen Band mit Musikern aus den USA, Italien und Kolumbien.
Die anderthalb Stunden im Tempodrom beweisen, was für ein großer zeitloser Texter Morrissey ist, wenn er denn sich auf die Lyrics beschränkt und die ideologische Prosa beiseite lässt.
Smiths-Dualismus: Romantik und robuste Gesellschaftskritik
Die „Shoplifters“ zeigen das beispielhaft: „But last night the plans for a future war/ Was all I saw on Channel Four“ singt Morrissey. Das ist fast 40 Jahre alt, funktioniert aber auch als Kommentar zu den „Kriegstüchtigkeits“-Phrasen unserer Tage.
Das romantische Gegengift zu dieser robusten Gesellschaftskritik (Ladendiebstahl = die Notwehr der Habenichtse) ist „I Know It‘s Over“, das zweitschönste Liebeslied aus dem Smiths-Repertoire.
Bei seinem Galopp durchs Solo-Repertoire mixt Morrissey bewährte Herzensbrecher wie „Everyday Is Like Sunday“ mit selten gespielten Abseitigkeiten („All the Lazy Dykes“). Am Ende des regulären Sets wird die Bühne minutenlang intensiv eingenebelt, und Morrissey verflüchtigt sich zu einem Schattenriss im roten Scheinwerferlicht.
Mit dem Verflüchtigen kennt er sich aus. Der Musikblog WeHeartMusic führt akribisch darüber Buch, wie viele Liveshows der Künstler in der Vergangenheit abgesagt, abgebrochen oder verschoben hat. In seiner Zeit als Solist sind es über 300. Die Zuschauer in Berlin haben also Glück gehabt.
In Schweden ließ Morrissey das Publikum sitzen
In der Woche vor dem Tempodrom Berlin standen zwei Konzerte in Stockholm auf dem Tourneeplan, die ließ Morrissey sausen, und raunte zur Begründung, ohne den Support einer Plattenfirma und von Radiosendern seien solche Shows unfinanzierbar, trotz phänomenaler Ticketverkäufe.
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Am kommenden Freitag beginnt in Cardiff die Reunion-Tour von Oasis, finanziell ist die Konzertreihe durch Großbritannien und den Rest der Welt (Ausnahme: Kontinental-Europa) für die Gallagher-Brüder ein voller Erfolg.
The Smiths: Lukratives Angebot für Reunion lag vor
Die größere, bedeutungsvollere Wiedervereinigung, sagt Morrissey unbescheiden/wahrheitsgemäß, wären The Smiths gewesen, und tatsächlich habe ein sehr lukratives Angebot eines großen Veranstalters (Anschutz Entertainment Group) vorgelegen. Er sei zu dieser Tournee bereit gewesen, doch Gitarrist Johnny Marr habe die Offerte schlicht ignoriert.

Meister aller Provokationsklassen: Morrissey.
© Thomas Brill | Thomas Brill
Das Verhältnis der beiden gilt als zerrüttet, auch wegen Morrisseys politischer Anwandlungen. Auf einer Bühne wird man die beiden wohl erst wieder sehen, wenn die Höhe zufriert. Aber vorher besucht auch Johnny Marr Berlin: Am 31. Oktober spielt er im Astra.