Nullnummer in Leipzig: Ein Festival des Anlaufens – Sport | ABC-Z

Auch im digitalen Duden existiert das Fußball-Modewort „anlaufen“, es wird dem „Jargon“ der „Ballspiele“ zugeordnet und steht, wie unter dem Abschnitt 3.c zu lesen ist, für „angreifen, attackieren“. Zur Veranschaulichung wird die Wendung „den gegnerischen Stürmer anlaufen“ aufgeführt, ein erhellendes Exempel. Wollte der Duden seine Erklärung mit bewegten Bildern unterfüttern, so böte sich an, eine Aufzeichnung des Spektakels zu verlinken, das der 1. FC Union Berlin am Samstag über die größten Strecken seiner Partie bei RB Leipzig bot: ein Festival des „Anlaufens“. Es verhalf Union zu einem 0:0-Unentschieden, und das wiederum bedeutete, dass die in dieser Saison weiterhin ungeschlagenen Köpenicker fünf Punkte auf dem Konto haben und die Leipziger zwei Wochen nach dem einigermaßen überraschenden Sieg in Leverkusen die Chance vergaben, an der Spitze der Tabelle zu verweilen.
Die Partie strafte jene Lügen, die gemeint oder vielleicht auch gehofft hatten, die Partie würde aufgrund der besonderen Umstände zu einer Befreiung der Akteure beider Teams aus ihren taktischen Zwangsjacken führen. Beide Teams durften (oder mussten) ohne ihre jeweiligen Vorgesetzten antreten. Unions Bo Svensson hatte sich zwei Stunden vor Beginn der Partie final für unpässlich erklärt, wegen Grippesymptomen, die bald wieder abklingen werden, wie sein Stellvertreter Babak Keyhanfar versicherte; Leipzigs Marco Rose musste, weil gelb-rot-gesperrt, das einzige Ostduell der Liga durch das Fenster einer Kabine betrachten, die sich knapp unterhalb des Stadiondachs befand. Die Regeln untersagen, dass gesperrte Trainer nicht nur während des Spiels, sondern auch 30 Minuten vor und nach der Partie mit ihren Mannschaften kommunizieren dürfen. Gleichwohl war keine Form der Insubordination zu begutachten. Auch in Absenz der Chefs gab es keine Anarchie, war der Respekt vor den Plänen der verhinderten Chefs bei beiden Mannschaften absolut.
In der Königsklasse könnte Leipzig auf eine ähnlich kompakte Verteidigung treffen
Das hieß konkret: Union spielte so defensiv, wie Rose die Köpenicker erwartet haben dürfte; die Leipziger wiederum versuchten diesem Ansatz mit dem Rezept beizukommen, das Rose unterschrieben hatte. Was dabei herauskam? Eine Partie, die von einem störenden Brummton namens „Abwehrverhalten“ dominiert wurde. Rose adelte es als „sehr konsequent, kompakt und laufintensiv“. Andererseits: Dass die Köpenicker sich den Punkt durch selbstlose Aufopferung „redlich verdient“ hatten, wie Rose meinte, war nicht zu verneinen. Wirklich besondere Vorkommnisse gab es im Grunde nur zwei: eine formidable Parade von RB-Torwart Peter Gulasci bei einem Kopfball von Tom Rothe (58.) sowie einen Foulelfmeter für Leipzig (74.), der von der Generosität lebte. Von der Generosität des Schiedsrichterteams – denn bei genauer Betrachtung hatte RB-Stürmer Loïs Openda eher auf das Bein von Union-Verteidiger Kevin Vogt getreten – und von der Generosität Opendas. Er hat nun bereits drei Strafstöße in Serie vergeben, einen davon mit Belgiens Nationalelf.
Ansonsten monierte Leipzigs Trainer Rose zu Recht, dass dem Spiel seiner Mannschaft zu wenig Tiefe innegewohnt habe. Sie habe das Spiel zwar kontrolliert und dominiert, aber „zu selten die Räume gefunden, in denen es interessant und gefährlich wird“. Er hoffte aber, dass sein Team die richtigen Schlüsse daraus ziehen werde, denn am Donnerstag spielt Leipzig bei Atlético Madrid in der Champions League auf (21 Uhr, live auf Dazn). „Vielleicht finden wir da ein paar Aspekte aus dem Spiel von heute wieder“, sagte Rose; Atlético gilt als eine Mannschaft, die Gegnern gern mal durch kompaktes Verteidigen in die Suppe spuckt. Doch ob Diego Simeones Team wirklich so tief stehen wird, muss sich noch erweisen – zumal niemand weiß, ob der neue Modus die Matchpläne verändert. RB-Torwart Gulasci sieht am Horizont eine größere Risikofreude der Königsklassenteilnehmer aufziehen: „Jedes Spiel ist all in“, sagte er.