Timo Boll beendet Tischtennis-Karriere: Der letzte Tanz | ABC-Z

Wehmut und Melancholie umwehten ihn schon seit Monaten, seitdem er kurz vor den Olympischen Sommerspielen 2024 seine Rückzugsstrategie vom Tischtennis in der F.A.Z. öffentlich gemacht hatte: Paris als Schlusspunkt seiner internationalen Karriere und dann eine letzte Saison mit Borussia Düsseldorf in der Bundesliga und Champions League bestreiten.
Dutzende von Abschiedsvorstellungen gab Timo Boll seither in den Tischtennishallen der Republik, die jahrzehntelang seine sportliche Heimat gewesen waren. Nun steht sein allerletzter Auftritt bevor: Am Sonntag in der Frankfurter Ballsporthalle, im Finale gegen Ochsenhausen um die deutsche Mannschaftsmeisterschaft, will er mit Borussia Düsseldorf seine letzte Trophäe gewinnen. „Es wäre schön, mit einem Titel abzutreten“, sagt Boll, als ob es auf einen mehr oder weniger noch ankäme. „Es gäbe mir aber ein gutes Gefühl.“
„Es war uns eine Ehre, mit ihm arbeiten zu dürfen“
Die vorletzte Gelegenheit verpasste er am vergangenen Wochenende, sein 2:3 im Match gegen den Slowenen Darko Jorgic bahnte die Düsseldorfer 1:3-Niederlage gegen den 1. FC Saarbrücken im Endspiel der Champions League an. Was ihn wurmte, wie so manches Spiel auf seiner Abschiedstournee, das nicht nach seinen Vorstellungen verlief, weil er das Niveau, das er von sich erwartete, nicht mehr erreichte. „Es muss gesundheitlich alles passen, damit ich meine Leistung abrufen kann, leider war das nur noch selten der Fall. Das kratzt an meinem Ego“, sagte er. Seine Bundesliga-Bilanz von 12:11 Siegen ist für einen 44-Jährigen dennoch nicht schlecht.
In welcher Form Timo Boll an diesem Sonntag in Frankfurt auch immer aufspielen wird – das Publikum wird ihm huldigen, wenn er den Schläger aus der Hand legt. Trotz eines Eberhard Schöler, trotz eines Jörg Roßkopf, trotz eines Dimitrij Ovtcharov gilt er unumstritten als bester deutscher Spieler der bisherigen Tischtennis-Geschichte.
Boll stand nie in einem WM-Einzelfinale wie Schöler, gewann keinen WM-Titel im Doppel wie Roßkopf und keine Olympia-Einzelmedaille wie Ovtcharov, aber seine 30 Jahre währende Karriere übertraf als Gesamtkunstwerk alle anderen. Wegen der unglaublichen Titel- und Medaillensammlung, die seine Konstanz mit sich brachte, aber vor allem auch wegen seines Charakters. In 30 Jahren machte sich Boll in der Branche keinen einzigen Feind, erhielt wiederholt Auszeichnungen für sein Fair Play, wenn er Schiedsrichterentscheidungen zu seinen Ungunsten korrigierte, erfüllte geduldig Autogramm- und Selfie-Wünsche der Fans und beantwortete ausdauernd Fragen der Medien.
Als Spieler vereinigte Boll die unterschiedlichsten Eigenschaften in sich, zerpflückte Vorurteile, dass Genies schlampig, Strategen uninspiriert, Stars egoistisch und arrogant sein müssten, dass Sanftmütige nicht bis zum Letzten kämpfen könnten und Sensible keine Nerven hätten, wenn alles auf dem Spiel steht. Bolls einzige Schwäche war sein Körper, der ihn immer wieder peinigte, zu Pausen zwang und der ihm höchste Disziplin und große Duldsamkeit abverlangte, um seine Laufbahn so lange durchziehen zu können.
Dass Bolls Spiel etwas Geniales hatte, war den Experten bewusster als den Medien und den Fans. Er wurde nicht „Mozart des Tischtennis“ getauft wie der Schwede Jan-Ove Waldner, der mit spektakulären und unkonventionellen Schlägen verblüffte. Waldner hatte etwas von einem Zauberer oder Gaukler in sich, der sein Publikum mit offenen Mündern und aufgerissenen Augen zurücklassen wollte. Boll wollte immer nur den Punkt. Um ihn zu gewinnen, boten sich ihm mehr Möglichkeiten als fast jedem anderen in der Tischtenniswelt, aber auf die effektheischenden verzichtete er.
Zwei Dinge befähigten ihn zu seinem außergewöhnlich inspirierten Spiel – sein Talent, komplizierteste Bewegungsmuster rasch zu erlernen, und seine Augen. Seine Sehschärfe von 280 Prozent ermögliche ihm, schon früh die Rotation des Balles anhand des aufgedruckten Stempels und damit den Spin zu erkennen. Diese Information ist essenziell, um einen passenden Bewegungsablauf für den Rückschlag zu starten. Boll kann den Stempel aus fünf Meter Entfernung erkennen, Normalsichtige aus 1,78 Metern, also ist er in der Lage, früher zu adaptieren als andere.
Sogar seine Trainer waren häufig überrascht, welche Lösungen Boll in Bedrängnis fand und seine Gegner durch Platzierungen des Balles oder plötzliche Rotationswechsel noch düpierte. „Du musst vorher erahnen, wohin der Gegner den Ball spielen will, sonst wirst du abgeschossen. Um auf den Schlag zu reagieren, ist die Zeit zu kurz“, beschrieb es Boll ganz lapidar. All seine prägenden Trainer – Helmut Hampl, Richard Prause und Jörg Roßkopf – gaben ihrer Bewunderung für Bolls Fähigkeiten zum Abschied wortreich Ausdruck. Die Quintessenz: „Es war uns eine Ehre, mit ihm arbeiten zu dürfen.“