Noten und Übertritt in Bayern: Neue Regelung zur Rechtschreibung führt zu noch mehr Stress – Bayern | ABC-Z

„Zähle drei weitere Kinderrechte auf“, lautet die Aufgabe in dieser Probe in einer vierten Klasse irgendwo in Oberbayern. Darunter steht in königsblauer Füllertinte, kindlich geschwungen: „Recht Elterliche führsorge, Recht auf gehwahltfreie Erziung, Recht auf Spiel und Freihzeit“. Daneben, darüber und dazwischen hat die Lehrkraft in Kugelschreiber-Rot zackige Fehlerzeichen, Pfeile für falsche Groß- oder Kleinschreibung gemalt und einen Blitz, versehen mit dem „RS“ für Rechtschreibung. Punktabzug.
Zwei Punkte können die Viertklässler bekommen, wenn sie Fachbegriffe richtig schreiben und in ganzen Sätzen die Fragen beantworten, so steht es oben auf dem Test. Das Kind, dessen Probe hier zitiert wird, bekommt dafür null Punkte. Für die Mutter ist das Grund genug, sich irritiert an diese Zeitung zu wenden, weil doch inhaltlich alles stimmt und die Wörter verständlich sind. Was das denn soll mit dieser neuen Regel, dass Rechtschreibung nun in allen Fächern benotet wird? Ist das nicht zu streng für Grundschulkinder?
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In den Tagen vor den Osterferien lagen in vielen Familien im Freistaat die Nerven blank. An den 2420 bayerischen Grundschulen wurden die allerletzten Proben geschrieben. In all dem Bangen sollten Eltern mindestens über eines froh sein: Die jüngsten Schüler beweisen dabei all den Bedenkenträgern und trotz der Pisa-Studie oft problemlos, dass sie eben doch Mathematik können – zumindest, wenn sie ausrechnen müssen, wie viele Punkte noch fehlen zum ersehnten Schnitt.
Die Noten sind entscheidend, ob Mädchen und Buben in Bayern nach der Grundschule am Gymnasium, an der Real-, der Wirtschafts- oder der Mittelschule weiterlernen. Und am 2. Mai, gleich nach den Osterferien, bekommen 117 000 Viertklässler ihr Übertrittszeugnis.
Fürs Gymnasium brauchen Mädchen und Buben mindestens 2,33 als Notendurchschnitt aus Mathematik, Deutsch sowie Heimat- und Sachunterricht. Für die Real- oder die Wirtschaftsschule muss es 2,66 sein. Wer den Schnitt knapp nicht schafft, kann noch in den Probeunterricht gehen. Wie sinnig dieses System ist, darüber lässt sich trefflich streiten. Es gilt seit gut 50 Jahren in Bayern und wird wohl bleiben, solange die CSU regiert.
Das alles muss man wissen, um zu verstehen, was zwei Punkte für Rechtschreibung dieser Tage in manchen Familien auslösen.
Tatsächlich gilt seit diesem Schuljahr eine neue Regel in Bayern: War es bisher den Lehrkräften überlassen, ob sie die Rechtschreibung bewerten oder nicht, verlangte ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum Nachteilsausgleich für Schüler mit Rechtschreibstörungen nach einer einheitlichen Regel. „Bei schriftlichen Leistungsnachweisen in allen Fächern sind Verstöße gegen die Sprachrichtigkeit und schwere Ausdrucksmängel zu kennzeichnen und angemessen zu bewerten“, heißt es neuerdings zum Beispiel in der Schulordnung für die bayerischen Grundschulen.
„Rechtschreibung, Grammatik und Syntax sowie schwere Ausdrucksmängel“ müssen laut Kultusministerium seit September 2024 in allen Fächern gekennzeichnet und bewertet werden. Was allerdings „angemessen“ ist und wie stark sie die Fehler gewichten, bleibt weiter den einzelnen Lehrkräften überlassen.
Der große Aufschrei darüber ist ausgeblieben, jedenfalls ergab ein Rundruf bei Eltern- und Lehrervertretern sowie im Kultusministerium: Keine Probleme bekannt.
Die Lehrkräfte wüssten genau, welche Mutter dann mit dem Anwalt kommt
Rechtschreibfehler wurden in der Grundschule immer schon angestrichen, sagt auch Stefanie Horinek, Schulleiterin der Grund- und Mittelschule Wallersdorf. Selbst vor 20 Jahren, als Kinder noch nach Gehör schreiben lernten und oft arges Kauderwelsch auf dem Papier stand. In dieser Zeit habe sie als Grundschullehrerin angefangen, erzählt Horinek, und natürlich den Kindern in ihren Texten die richtige Schreibweise ergänzt. Aber nicht unbedingt auch bewertet.
Eine Einschränkung macht Horinek: Wenn es um den „Wortspeicher“ geht, also um Fachbegriffe etwa in Mathematik oder im Heimat- und Sachunterricht. Diese gehörten zum Stoff dazu, werden geübt und „hängen überall im Klassenzimmer“. Die müssen sitzen, sagt die Vorsitzende des Bayerischen Schulleitungsverbandes,„das kann man Dritt- und Viertklässlern schon zumuten“.
Wie Rechtschreibung bewertet wird, sei immer dann Thema, wenn es um den Übertritt gehe, sagt Simone Fleischmann. „Bei diesem Punkt haben Eltern immer schon geschimpft. Aber wir dürfen Rechtschreibung bewerten und machen das gerade in der Grundschule sehr zugewandt.“ Die Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV) leitete eine Grund- und Mittelschule in Poing bei München, bevor sie 2015 Verbandschefin wurde. Der Übertritt sei nicht nur für Familien eine heiße Zeit: „Sie glauben gar nicht, wie viele Lehrer über jede einzelne Probe diskutieren.“ Die Kollegen wollen den Kindern gerecht werden, sagt Fleischmann, gerade wenn es „Spitz auf Knopf steht“ – und sie wüssten genau, welche Mutter im Zweifel mit dem Anwalt einmarschieren könnte. So gesehen sei der neue Passus in den Schulordnungen für die Lehrkräfte sogar eine „Hilfe“, sie haben nun Rechtssicherheit.
Bayerns Schülersprecher nennen die neue Regel dagegen „nicht nur unfair, sondern hochproblematisch“. Weil es eben keine Vorgaben für Lehrer gibt, wie sie „angemessen“ bewerten. „Subjektivität und mögliche Benachteiligung“ seien ein Problem, sagt Landesschülersprecher Justin Infantado. Bisher gab es Punkte in Klausuren, sofern Fachbegriffe nicht „sinnverändernd“ geschrieben wurden. Dass es nun auf den Lehrer ankomme, wie stark falsch geschriebene Fachbegriffe bei der Note ins Gewicht fallen, nennt er „äußerst problematisch.“ Wenn in Mathe „Parabel falsch geschrieben ist, kann die Rechnung noch so richtig sein, das gibt Punktabzug.“ Das dürfe nicht sein, das gehöre wieder „abgeschafft“, findet er.
Wenn man Grundschülern zumuten kann, Fachbegriffe richtig zu schreiben, gilt das dann nicht auch für die Älteren? Doch, klar, sagt Infantado, Schule müsse auch auf den Beruf vorbereiten, und später etwa in Verträgen Fehler zu haben sei „unseriös“. Aber derart strenge Regeln dürften aus Sicht der Landesschülersprecher erst für die Oberstufe oder die Abschlussklassen gelten. Statt den Notendruck bei den Jüngsten zu erhöhen, bräuchte es „gezieltere Rechtschreibförderung“.
Und die Mutter dieses Viertklasskindes mit der HSU-Probe? Dass Fachbegriffe sitzen müssen, sieht sie dann doch ein. Und ist froh, dass ihr Kind kein Wackelkandidat ist. Der Übertritt klappe, sagt sie, aber ihr Kind hatte sich halt so bemüht, einmal besser zu sein als die Zwillingsschwester. Da komme es auf jeden Punkt an.