Nominierung: „Du musst dich in Bewegung setzen, sonst gehst du unter“ – Grüne schicken Habeck als Kanzlerkandidat ins Rennen | ABC-Z
Auf ihrer 50. Bundesdelegiertenkonferenz in Wiesbaden wählten die Grünen mit Franziska Brantner und Felix Banaszak eine neue Parteispitze – und nominieren Vizekanzler Habeck als ihre Nummer 1. Der schwört die Partei auf einen kurzen, harten Winterwahlkampf ein.
Die Grünen ziehen mit Robert Habeck an der Spitze in den nächsten Bundestagswahlkampf. Auf ihrem Parteitag in Wiesbaden, der am Sonntag zu Ende ging, wurde der Wirtschaftsminister von den über 800 Delegierten mit 96,48 Prozent zum „Kandidaten für die Menschen in Deutschland“ gekürt.
Der Begriff des „Kanzlerkandidaten“ wurde in einem vom Bundesvorstand eingebrachten Dringlichkeitsantrag weiträumig umschifft. Robert Habeck hätte „das Zeug zu einem guten Bundeskanzler“, heißt es dort. „Er hat unser Land erfolgreich durch die Energiekrise geführt“, die Probleme angepackt, die die große Koalition über so viele Jahre liegen gelassen habe: „Energiewende massiv beschleunigt, Klimaschutz auf Kurs gebracht, Modernisierung der Wirtschaft eingeleitet“.
Der Höhepunkt des dreitägigen Parteitags war die rund einstündige Rede von Habeck, freundlich eingeleitet von Außenministerin Annalena Baerbock, die 2021 als Kanzlerkandidatin kandidierte und 14,8 Prozent einfuhr. Davon sind die Grünen derzeit je nach Umfrage zwischen drei und fünf Prozentpunkten entfernt. Aber keiner könne das Ruder so rumreißen und die Segel richtig setzen wie Habeck, sagte Baerbock.
„Ich bewerbe mich, Euch im Wahlkampf anführen zu dürfen“, sagte Habeck. In seiner einstündigen Rede warnte er vor vier gegenwärtigen Gefahren. Die Zeit sei dominiert von Putins Aggression, dem Klimawandel, dem Populismus – und der Resignation, der viele Menschen angesichts dieser Probleme anheimfielen.
Freiheit als politische Arbeitsauftrag
Auch er habe sich im Sommer gefragt, ob er antreten wolle, verriet Habeck dem Publikum. An einem Badesee habe sein Sohn ihn daran erinnert, wie er dem Kleinen mal das Schwimmen beigebracht hätte: „Du musst Dich bewegen, sonst gehst Du unter!“ Deshalb wolle er jetzt nicht kneifen.
Die Selbstbestimmung der Menschen sei der zentrale Gedanke der Bündnisgrünen. Die Partei kämpfe für „Freiheit im rechtsstaatlichen Sinne“. Freiheit sei immer ein politischer Arbeitsauftrag, derzeit stehe sie unter Druck wie selten zuvor.
Habeck arbeitete sich in seine Rede an Union und SPD ab, die in der großen Koalition die deutsche Abhängigkeit von russischem Gas „politisch hergestellt“ hätten. In den letzten drei Jahren habe er viele schlaflose Nächte gehabt, um die Energieversorgung zu sichern. Eine Katastrophe sei „auch durch den rasanten Ausbau erneuerbarer Energien“ abgewendet worden.
Habeck warb dafür, die Schuldenbremse neu aufzustellen, um Investitionen zu ermöglichen, am besten noch vor den Neuwahlen. „Ich bin kein großer Fan davon, Schulden zu machen. Ich bin dafür, dass der Job gemacht wird“, sagte er.
Wenn Menschen sich nur noch anbrüllten, sei ein Gespräch nicht mehr möglich, so Habeck. Nicht die Menschen, die aus der Ukraine und Syrien fliehen würden, seien das Problem, sondern Putin, der dort Kriege führe und bewusst Fluchtbewegungen erzeuge. Beim Thema Klimawandel warnte Habeck davor, dass sich die globale Erwärmung zum Treiber von Wirtschaftskriegen und Wohlstandsverlusten entwickeln würde, wenn sie nicht gedämpft werde.
11.000 neue Eintritte bei den Grünen
In den vergangenen zehn Tagen konnten die Grünen 11.000 neue Eintritte verzeichnen. Dieser Schwung beflügelte auch die Bundesdelegiertenkonferenz, die ohne große Konflikte über die Bühne ging. Das Aus der Ampel führte in Wiesbaden zu einer erheblichen Disziplinierung der sonst so streitlustigen Parteibasis.
Wäre die Koalition noch im Amt, hätte es deutlich schärfere Debatten gegeben, hieß es von führenden Grünen am Rande der Tagung. Ursprünglich stand in Wiesbaden auch ein Antrag auf der Tagesordnung, über einen Ausstieg aus der Regierung zumindest zu diskutieren. Die Debatte erübrigte sich, nachdem die FDP ihren Rauswurf provoziert hatte – so legen es jedenfalls jüngste Recherchen nahe.
Doch manche Konflikte, vor allem zum Thema Migration, sind damit nur aufgeschoben. Am Samstagabend entschärfte man das Thema noch mit Formelkompromissen und der Empfehlung, einen Arbeitskreis beim Kanzler zu gründen.
Die Grünen werden aber in einem Wahlprogramm, das im Januar auf einem weiteren Parteitag beschlossen werden soll, Farbe bekennen müssen. Das wird ohne Streit nicht möglich sein, manche Grüne lehnen es ab, von „irregulärer Migration“ überhaupt zu sprechen.
Denen schrieb vorbeugend Doppelminister Cem Özdemir am Samstagabend in einer Rede ins Stammbuch, dass es neben großer Humanität eben immer auch „klare Regeln“ gebe. „Und wer die Regeln nicht einhält, hat die Konsequenzen zu tragen. So einfach können die Dinge manchmal sein. Aber dann muss man sie auch so einfach und so deutlich aussprechen.“
Am Samstag war mit dem Parteilinken Felix Banaszak und der Reala Franziska Brantner eine neue Parteiführung gewählt worden. Banaszak erzielte fast 93 Prozent, Brantner, eine enge Vertraute von Habeck und Koordinatorin des gemäßigten Flügels, nur 78,15 Prozent.
Die Differenz von 15 Prozent markiert die Sorge der Parteilinken, dass deren Überzeugungen in der Eile des 100-Tage-Wahlkampfs unter Habecks Führung weiter geschliffen werden könnten. Die Hoffnung der Partei besteht darin, dass Habeck in den kommenden Wochen und Monaten eine Aufholjagd gelingt und die Grünen bei der Bundestagswahl zumindest vor der SPD des angeschlagenen Bundeskanzlers Olaf Scholz liegen. Sollte die SPD allerdings doch noch Boris Pistorius mobilisieren, wäre das für die Grünen eine sehr schlechte Nachricht.