Bezirke

Night of The Proms in der Münchner Olympiahalle: ein kleines bisschen Horrorshow – München | ABC-Z

Die Frage nach dem Sinn ist sinnlos in der Pop-Welt. Also eine Frage wie: Was hat der Schockrock-Gruftie Alice Cooper bei der „Night of The Proms“ zu suchen? Alice-Cooper-Fans würden die Frage eh andersrum stellen: Wieso lässt sich der 76-jährige Brite – der bei seiner Solo-Tour 2024 just hier an derselben Stelle in der Münchner Olympiahalle damit kokettierte, einst als Jugendgefährder aus Deutschland verbannt worden zu sein – auf so eine gutbürgerliche Sause ein? Der passionierte Golfer, eigentlich Vincent Damon Furnier, wird die Antwort selbst auf der Bühne geben.

Zum Höhepunkt dieser funkelnden Revue von Pop-Klassikern und Klassik-Pop fährt er als Rock-Zuchtmeister mit Zylinder, Zirkusdirektoren-Frack, Totenkopfgürtel und Reitgerte wie ein stark überschminkter Teufel aus dem Bühnenboden auf. Erst singt er das erwartbare „Poison“ und deutet dabei so oft mit dem Zeigefinger in die vollbesetzten Stuhlreihen, dass sich jede und jeder hier fein Herausgeputzte ein bisschen „dirty“ fühlen kann: „Your skin so wet /Black lace on sweat.“ Aber dann verkündet er, was ihm diese Christmasparty XXL gibt: Er habe da diesen alten Lieblingssong, den er nie live spielen konnte, weil ihm dazu all das hier fehlte: der Chor, das große Orchester und sein „brasilianischer Lieblingsvampir“, womit er die stets im Gothic-Schick funkelnde Dirigentin Alexandra Arrieche meint.

Zusammen bringen sie „Might As Well Be On Mars“ dunkel zum Strahlen. In dem Epos aus dem Jahr 1991 beobachtet der Sänger als Stalker vom Dach aus eine Verflossene, hinter dem Fenster ihrer Lieblingskneipe so unerreichbar wie ein ferner Planet, und das eigene Licht schwindet. Das greift den düster-romantischen Ton auf, den anfangs Ultravox– und „Live Aid“-Begründer Midge Ure gesetzt hat. Der Schotte, der zuletzt seine eigene Tour wegen schwerer Krankheit absagen musste, findet hier, getragen von fast 100 Mitmusikern, zur Stärke zurück – der gerade in den Achtzigern gern opulent zelebrierten Stärke der Verletzlichkeit: „Dancing With Tears In My Eyes“.

Ein Trommelfeuerwerk brannte das dänische „Safri Duo“ ab (hier eine Aufnahme aus Frankfurt). (Foto: Foto: Marc Metzler/© mTwoMedia)

Auch hier, wo einst Synthesizer pulsierten, passt der Klassikstreich des Antwerp Philharmonic Orchestra blendend. Ebenso, wenn sich der barfüßige Soul-Sonnenschein Joss Stone zu „You Had Me“ den ikonischen funky Philly-Sound wünscht. Man hört immer wieder: Die Popper lieben das, ihre Songs mal richtig aufgedonnert zu singen, so sagt das hier auch Michael Schulte, einer von wenigen deutschen Singer-Songwritern von internationaler Klasse: „Es ist ein Traum für jeden Sänger, bei so etwas dabeisein zu dürfen.“ Und er lebte ja schon den Traum, mit einem sehr persönlichen Song zum ESC reisen zu dürfen: „You Let Me Walk Alone“, auch bei der Night of the Proms ein groß inszenierter, emotionaler Moment.

Soul-Sisters: Joss Stone (links) und Vanessa Amorosi sangen zusammen „Lady Marmelade“ und „It's Raining Men“ (hier ein Bild von der Show in Dortmund).
Soul-Sisters: Joss Stone (links) und Vanessa Amorosi sangen zusammen „Lady Marmelade“ und „It’s Raining Men“ (hier ein Bild von der Show in Dortmund). (Foto: Foto: Marc Metzler/© mTwoMedia)

Darf’s ein bisserl mehr sein? Die beliebte Frage an der Wursttheke wird bei der „Night Of The Proms“ seit nun 40 Jahren in Europa, seit 30 Jahren in Deutschland, zum 85. Mal in der Olympiahalle (am Samstag und Sonntag zum 86. und 87. Mal) voll bejaht. Einmal im Jahr gönnt man sich das. Abendkleid-Pop. Für die „Promser“ genannten Stammgäste, die schon in der Halle die Karten fürs noch ungecastete nächste Jahr, die Jubiläums-Doppel-Langspielplatte und das neue Buch mit all den „Proms-Familie“-Geschichten kaufen, ist es ein Ritual wie eine Weihnachtsfeier. Immer beglückend, am Heimweg wird dann diskutiert, welcher Gang einem am besten schmeckte. Diesmal eventuell die Australierin Vanessa Amorosi, die ihren Hit „Absolutely Everybody“ nur mit Chor und Cajon singt, die „Proms-Hymne“ „Music“ von John Miles furios bis zur Mikro-Schwertschlucker-Pose durchorgelt und dann noch zwei Soul-Sister-Duette mit Joss Stone abfeiert: „It’s Raining Men.“

Es ist ein sehr guter Jahrgang. Seltsam nur, dass diesmal kein Klassik-Star (wie einst Andrea Bocelli) dabei ist. Die Trommler vom Safri Duo gelten ja nicht als Klassik-Virtuosen, sondern zeigten vor 25 Jahren mit „Played Alive (The Bongo Song)“ explizit, dass man als Instrumentalist Popstar in Elektro-Clubs und WG-Partys werden kann.

Gut, Klassikstar ist jetzt eben in ihrem zehnten Proms-Jahr Maestra Arrieche. Oft beglückt hopsend treibt sie ihre Musiker in einem wonnigen Disney-Sound schwungvoll vor sich her. Die Orchester-Häppchen sind Kunstwerke für sich, von Mozarts „Lacrimosa“ über Offenbachs „Barcarole“, Verdis Gefangenenchor und Tschaikowskys „Romeo & Julia“ bis zu Gounods „Trauermarsch für eine Marionette“. Zu letzterem tanzt zombiehaft anmutig die Ballerina Sheryl Goddard.

Bis in alle Ewigkeit: Alice Cooper und seine Frau Sheryl Goddard (hier eine Aufnahme aus Dortmund).
Bis in alle Ewigkeit: Alice Cooper und seine Frau Sheryl Goddard (hier eine Aufnahme aus Dortmund). (Foto: Foto: Marc Metzler/© mTwoMedia)

Auch schön, weil hier einmal nicht die Klassik dem Rock dient, sondern umgekehrt. Denn die Pastorentochter Sheryl Goddard ist ja eine Rock-Bitch, das darf man bei ihr sagen, so lustvoll wie sie später noch Alice Cooper zu „Only Women Bleed“ umflattert. Das ist durchaus viel Pathos, passt aber zu einem Rock-Opern-Darsteller-artigen Cooper (der einst ja als Vorlage für Frank’n Further in der „Rocky Horror Show“ diente), und passt in diesem Fall besonders. Denn Sheryl Goddard ist seit 50 Jahren mit diesem Gentleman des Horrorrock verheiratet, ihr theatraler Kuss am Ende eine wahre Liebesgeschichte.

Back to top button