Niederlage für das Internationale Paralympische Komitee : „Das IPC kommt in die Position des Getriebenen“ | ABC-Z
Seit Jahren begleiten Diskussionen um das Klassifizierungssystem die Paralympics. Ein Urteil des Landgerichts Köln nimmt das Internationale Paralympische Komitee nun in die Pflicht, Athleten die Möglichkeit zum Protest zu geben. Selbst wenn sie Hinweise auf Betrügereien von Konkurrenten hatten, durften sie keinen Protest einlegen – bis jetzt.
Es könnte ein wegweisendes Urteil sein: Das Internationale Paralympische Komitee (IPC) muss seinen Klassifizierungscode anpassen, damit Para-Athleten die Klassifizierung eines Konkurrenten in einem förmlichen Verfahren überprüfen lassen können, entschied das Landgericht Köln in einem Urteil vom 12. September 2024, das der ARD vorliegt.
Denn zur Gewährleistung der Wettbewerbsgleichheit stuft das IPC Athleten in verschiedene Klassen ein, abhängig vom Grad der Beeinträchtigungen. Obwohl Betrug zahlreich nachgewiesen wurde, konnten Athleten gegen die Klassifizierung eines Konkurrenten bisher nicht Protest einlegen – dies durften nur Verbände.
Gegen das IPC geklagt hatte der 44-jährige US-Amerikaner David Berling, dem nach einem Flugzeugabsturz 2007 beide Beine oberhalb der Knie amputiert worden waren. Seither tritt er im Para-Cycling an, manchmal auch gegen Athleten, deren Klassifizierung er angezweifelt hatte. Vor dem Landgericht Köln wurde Berling durch den Bochumer Rechtsanwalt Christof Wieschemann vertreten.
Anwalt Wieschemann: „Ein großer Erfolg“
Dieser sagte gegenüber der ARD: „Das ist ein großer Erfolg, weil auch dieses Urteil wieder zeigt, dass die Verbände innerhalb des staatlichen Rechts kein Inseldasein führen, sondern genauso wie alle anderen auch der gerichtlichen Kontrolle unterliegen.“ Er gehe davon aus, dass es durch Para-Athleten zu weiteren Protestverfahren kommen wird. „Das IPC kommt jetzt ein bisschen in die Position des Getriebenen.“
Das IPC antwortete auf ARD-Anfrage: „Wir haben die heutige Entscheidung zur Kenntnis genommen und werden uns Zeit nehmen, um sie vollständig zu prüfen, bevor wir uns weiter äußern.“ Nach ARD-Informationen ist es wahrscheinlich, dass das IPC Berufung einlegen wird, sodass es bald vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf zu einer neuen Verhandlung kommen könnte.
Zuletzt hatten sich beide Parteien Anfang Juli, und damit noch vor dem Start der Paralympics in Paris, zu einer mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht Köln getroffen. Das Gericht bescheinigte dem IPC, dass es im paralympischen Sport “als Unternehmen” handele und “marktbeherrschend” sei. Deswegen wurde der Streit nach dem Kartellrecht entschieden, zumal der betroffene Athlet Berling seinen Lebensunterhalt mit Para-Sport verdient. Weil das IPC in Bonn sitzt, war das Landgericht in Köln zuständig.
Urteil ein wichtiger Schritt für Para-Athleten?
Ganz beendet dürfte der Rechtsstreit damit aber noch nicht sein. Ein womöglich wegweisender Teilerfolg für David Berling, hinter dessen Klage laut eigener Aussage auch eine Vielzahl weiterer Athleten stehen, ist es dennoch. Denn Probleme im Klassifizierungssystem gibt es im Para-Sport offensichtlich zuhauf.0
Als Para-Sportler und Mitglied der US-amerikanischen Para-Nationalmannschaft fährt Berling auf einem handgetriebenen Fahrrad, auch Handbike genannt, in der Kategorie H5. Bei den Paracycling-Weltcups des Radsport-Weltverbands (UCI) landete er in den Zeitfahr-Wettbewerben auf der Straße in den letzten Jahren regelmäßig unter den Top Ten, für die Paralympics hatte er sich bislang jedoch nicht qualifizieren können.
Während seiner Karriere als Para-Athlet sei Berling bei nationalen wie internationalen Wettbewerben immer wieder gegen Konkurrenten angetreten, die aus seiner Sicht nicht in seiner Kategorie hätten antreten dürfen. Im Interview mit der ARD erklärte der frühere US-Soldat die Gründe seiner Klage: „Wenn sich zum Beispiel der Gesundheitszustand eines Athleten verändert, vielleicht sogar verbessert, sollte er nicht mehr in der Klasse antreten dürfen. Dann ist er wettbewerbsfähiger und hat eine größere Wahrscheinlichkeit, zu gewinnen.“
„Wie kann man einen unfairen Wettbewerb verkaufen?“
Erfahrungen dieser Art habe er einige gemacht, erzählt Berling: „Ich habe nie verstanden, wie sich Handbiker darüber freuen konnten, wenn sie gegen Konkurrenten gewonnen haben, die stärker beeinträchtigt sind als sie selbst.“ Auf Seiten des IPC fehle es jedoch an Interesse, das Klassifizierungssystem tiefgreifend zu verändern, um falsche Einstufungen zu verhindern.
Dies sei nicht nur in seiner Sportart ein Problem, denn paralympische Medaillen bedeuteten für alle Sportverbände, Sportdirektoren und Trainer in erster Linie Geld, erklärte Berling. Für ihn sei das eine Erklärung, dass einige gegen das Klassifizierungssystem doch nicht aufbegehren würden, auch von Seiten des IPC. „Die Paralympics sind eine Fernsehshow, sie brauchen Zuschauerzahlen und Sponsoren. Aber wie kann man einen unfairen Wettbewerb verkaufen? Das macht keinen Sinn.“
ARD-Doku zeigt Betrugsausmaß im Para-Judo
Eine ARD-Dokumentation im Rahmen der Paralympischen Spiele in Paris vor zwei Wochen hatte verdeutlicht, wie problematisch das Klassifizierungssystem im Para-Sport ist. Die Dokumentation legte dar, auf welche Weise vorgeblich blinde oder stark beeinträchtige Para-Judokas trotz Betrugsvorwürfen bei den Paralympics in Paris antreten durften. Der ARD zugespielte Videos hatten zuvor Para-Judokas beim Kartenspielen oder Bedienen eines Handys gezeigt – obwohl beide als vollständig blind klassifiziert wurden. Para-Judokas aus der Ukraine besäßen einen Führerschein und steuerten ein Auto, lautete der Vorwurf des ukrainischen Para-Judokas Yurii Marchenko.
Ein Klassifizierer sagte zu den Vorfällen im Para-Judo, dass dort “am meisten gemogelt” werde. „Jemand, der mehr sieht als sein Gegner, hat natürlich Vorteile.“ Interne IPC-Dokumente hatten schon im Vorfeld der Paralympics in Paris offengelegt, dass sowohl Para-Athleten als auch zahlreiche Funktionäre ihre Zweifel an derzeitigen Klassifizierungssystem geäußert hatten.
Funktionäre sprechen von einem „Gefühl der Ohnmacht“
Ruth McLaren, eine Funktionärin aus dem Para-Schwimmsport in Neuseeland, sprach beispielsweise 2023 von einem „Gefühl der Ohnmacht“ angesichts der zunehmenden Fälle von absichtlicher Falschdarstellung körperlicher Behinderungen, für die es keine Konsequenzen gebe. „Sportler und Trainer sind sich dessen bewusst und nutzen dies zu ihrem Vorteil“, erklärte McLaren damals dem australischen öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
Die Generalversammlung des IPC hatte im Mai 2024 einen überarbeiteten Klassifizierungscode beschlossen und dafür Meinungsbilder von beteiligten Athleten und Funktionären eingeholt. Die neue Version soll nun ab Januar 2025 zunächst für Sommersportarten in Kraft treten.
Berlings Karriere endet, sein Einsatz für andere Athleten nicht
Handbiker David Berling hatte vor dem Erfolg seiner Klage gegen das IPC schon das Nationale Olympische Komitee der USA, den Radsport-Weltverband und IPC-Vertreter kontaktiert, um auf Probleme im Klassifizierungssystem hinzuweisen. Zufriedenstellende Antworten habe er aber nicht erhalten.
Für Frust habe vor allem die Resonanz des IPC gesorgt. „Während das IPC also die Klassifizierungssysteme und Entscheidungen der internationalen Verbände regulieren und überwachen soll, unternimmt es nichts, um sicherzustellen, dass die internationalen Verbände ihre veröffentlichten Klassifizierungsregeln einhalten“, schildert Berling im Interview mit der ARD. Das sei für seine Klage der Hauptgrund gewesen.
Für den Athleten Berling wird sich allerdings nichts mehr ändern, denn: „Ich habe mich am Ende dieser Saison still und leise zurückgezogen und werde wahrscheinlich keine internationalen Rennen mehr bestreiten, aber ich werde aus einer Vielzahl von Gründen weitermachen.“ Selbst ein möglicher Gang in die nächsten Instanzen soll aus seiner Sicht dazu beitragen, dass der Para-Sport in Zukunft für Athleten fairer und gerechter wird.