Nick Woltemade: Über den eierlegenden Wollmilchmade | ABC-Z

In
unserer Kolumne “Grünfläche” schreiben abwechselnd Oliver Fritsch,
Christof Siemes, Stephan Reich und Christian Spiller über die Fußballwelt und
die Welt des Fußballs. Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am
Wochenende, Ausgabe 38/2025.
Vor Kurzem, in der Länderspielpause, war es mal wieder so
weit. “Wir haben ein wenig vergessen, Spezialisten auszubilden”, bemängelte
Eintracht Frankfurts Sportvorstand Markus Krösche im Kicker. “Wir haben
durch unsere Trainingsmethoden und den Fokus auf mannschaftlichen Erfolg die
Individualität von Spielern vergessen.” Ich las das, und im Hintergrund
setzten direkt leise Streicher ein, schließlich wurde hier das alte Lied vom
stromlinienförmigen Nachwuchs angestimmt, den die Nachwuchsleistungszentren des
Landes unaufhörlich produzieren. Spieler, die fünf Positionen spielen können
und taktisch bestens ausgebildet sind, auf dem Platz dann aber nur dröge
Stangenware produzieren. Diese Leier leiert seit den dunklen Ribbeck-Jahren
immer mal wieder: Der deutsche Fußball hat ein Nachwuchsproblem, es fehlt an
Typen, an Freigeistern, an Straßenfußballern, an den Individualisten eben, die
Fußball als Kunst verstehen und den Platz als ihre Leinwand.
Vorab: Ich finde, Krösche hat gar nicht mal unrecht. Klar
ist man froh über den polyvalenten Fußballbeamten mit Dauerabo auf die
Kicker-Note 3, der seinen Job gewissenhaft wegarbeitet. Aber im Stadion aus den
Sitzen gehen die Menschen, weil der Besondere eine fixe Idee hat. Weswegen es
mich ärgerte, was ebenfalls in der Länderspielpause geschah: Im Spiel gegen Nordirland
wurde Nick Woltemade ausgewechselt – und mit einem Pfeifkonzert bedacht.
Das ärgert mich, weil sich offenbar allenthalben nach
besonderen Spielern gesehnt wird, aber wenn dann mal ein Einhorn wie Woltemade
auftaucht, ist es auch wieder nicht okay. Steile These, aber: Trotz aller
Wirtzens und Musialas ist Woltemade der aufregendste Fußballer, den das Land
hat. Wirtz und Musiala sind technisch starke Spielmacher, torgefährlich und gut
im Eins gegen Eins. Was genau Woltemade ist, fällt mir sehr viel schwerer zu
sagen. Er ist Sturmtank und Dribbelkünstler gleichermaßen, Vollstrecker und
Techniker, Wühler und Gazelle, er ist der eierlegende Wollmilchmade, Neuner,
Zehner, irgendwas dazwischen oder gerade das, was ihm seine Intuition
einflüstert. Trotz 198 cm Körpergröße wirkt er beweglich wie einst Yıldıray Baştürk oder Dariusz Wosz, als würde Baştürk Wosz unter einem Woltemade-Trikot
auf den Schultern tragen.
Vor dem Tor hat er eine Pfiffigkeit, die ich zuletzt so bei
Dimitar Berbatov sah, oder bei Thomas Müller, der letzten großen Laune der
Natur des deutschen Fußballs. Er kann Bälle festmachen und abschirmen wie einst
Jan Koller. Er verwertet sie mit dem Kopf, mit dem Spann, er chippt sie,
streichelt sie mit dem Außenrist ins Eck, nach wunderbaren Soli oder trocken
aus der 08/15-Situation heraus, ganz so, wie es eben gerade nötig ist. Woltemessi
riefen ihn die Stuttgart-Fans, Woltemagic, Wondermade, Schwaben-Ibra. Spitznamen,
die schon anzeigen, was Phase ist, kommt Woltemade an den Ball und lässt seiner
Eingebung freien Lauf. Mit all dieser Unkonventionalität scheint mir Woltemade
wie das Gegenstück all jener stromlinienförmigen Nachwuchskicker, deren
Phantasma so oft beschworen wird.
Vielleicht war es sein 90-Millionen-Wechsel nach Newcastle,
vielleicht wird von besonderen Spielern auch immer etwas Besonderes verlangt
und dann ist die Enttäuschung groß, wenn sie das nicht in jedem Spiel abliefern.
Vielleicht ist Woltemade auch einfach schwer zu greifen, vielleicht aber liegt
das Problem auch bei uns, den Betrachtern. Philipp Lahm etwa schrieb über
Woltemade: “Auf dem Platz ist Woltemade unberechenbar. Seine Dribblings, Pässe
und Schüsse findet man nicht im Lehrbuch, sie sind im internationalen Vergleich
einzigartig. (…) Er lebt von seinem Freigeist und seinem Selbstbewusstsein (…) Aber er hat noch keine Kontinuität und Muster entwickelt – nicht beim ersten
Kontakt, nicht beim Kombinieren, nicht beim Timing im Kopfball, nicht beim
Schuss. Seine Tore sind nicht die logische Konsequenz von ausgezeichneten
Aktionen und Skills. Seine Exzellenz ist nicht wiederholbar.”
Zur Erinnerung: Diese eigentlich so hymnische Beschreibung
seiner Fähigkeiten war als Kritik gemeint.
Und wer bin ich, dem Weltmeisterkapitän zu widersprechen,
aber Lahms Glas wirkt mir doch arg halb leer, wo es doch so offensichtlich halb
voll ist. Mag sein, dass Woltemade Kontinuität erst noch nachweisen muss. Aber
ist es denn etwa nicht ganz wunderbar, dass da jemand ist, den die Götter alle
paar Spielminuten mal auf die Stirn küssen, auf dass er etwas ganz und gar Außergewöhnliches
macht? Der den Fans Momente voller Unberechenbarkeit, Freigeist, Exzellenz
schenkt? In seinen besten Momenten lebt dieser Sport von der nackten Intuition,
nicht vom einstudierten Laufweg oder dem vernünftigen Querpass. Eben von der
Kunst, nicht von der Arbeit.
Umso schöner, wie Woltemade am Donnerstag in der Champions
League und schon nach seinem Debüttor für Newcastle in England gefeiert wurde. Ein
schnöder Kopfball übrigens, nichts Wildes, aber eben der Siegtreffer im ersten
Spiel. “Rudi Völler auf Stelzen”, witzelte die Daily Mail, die Newcastle-Fans
sangen direkt mal einen Woltemade-Song. Dabei wissen sie ja noch gar nicht, was
dieser Spieler ihnen alles geben kann. Das Schöne ist: Niemand weiß das. Bis es
passiert.





















