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Kempten: Wie der Nationalsozialismus die Bauern im Allgäu gleichschaltete – Bayern | ABC-Z

Am 25. Juli 1943 bedankt sich Karl Stöckle in einem Brief von der Front für „das herrliche und schmackhafte Paket“, das er erhalten hat. Sogar die Butter sei noch gut gewesen. Stöckle berichtet weiter, dass er das Grab seines bei Leningrad gefallenen Bruders besuchen will, was er schlussendlich tatsächlich schaffen wird.

1600 Feldpostbriefe haben die sechs Söhne, die Tochter und die verwitwete Mutter Kreszenzia der Familie Stöckle zwischen 1939 und 1945 an die Front und zurück geschickt. Sie hielten Kontakt, sie tauschten sich über Wohlbefinden, Alltag und den Hof aus. Eine kleine Auswahl an Reproduktionen ist von Freitag an in der Halle II der heutigen Allgäuhalle in Kempten zu sehen – als Teil der Ausstellung „Butter, Vieh, Vernichtung. Nationalsozialismus und Landwirtschaft im Allgäu“.

Ein Jahr haben die Macher recherchiert und dokumentiert, gesammelt und sortiert. Und sie haben ihr Ziel erreicht, Dokumente, Fotos und Geschichten zu erhalten, die Zeitzeugen und ihre Nachfahren zu Hause lagern – wie die Feldpostbriefe der Familie Stöckle. Gerade deshalb wirkt die Ausstellung, die bis 9. November zu sehen ist, so plastisch. Sie zeigt erstmals, wie der Nationalsozialismus Familien, Kultur und vor allem die Landwirtschaft im ländlichen Raum durchdrungen hat – ein Thema, das laut Kuratorin Veronika Heilmannseder so in Bayern noch nie erforscht wurde. Und das in diesem Fall im Allgäu spielt, aber im wissenschaftlichen Ergebnis genauso für Niederbayern oder andere Regionen des Freistaats steht.

„Der Nationalsozialismus hat die gesamte Familie durchdrungen, vom Ehebett bis zur Freizeit der Kinder bis dahin, wie viel Liter Milch eine Kuh gibt“, sagt Christine Müller Horn, Museumsleiterin der Stadt Kempten. Die Ausstellung ist in fünf Themenabschnitte gegliedert, die das ländliche Leben damals geprägt haben: von der privaten Stube über den Stall und die Produktion bis hin zum Dorfplatz – und den zahlreichen Gewaltorten, die sich wie ein Netz über Südschwaben legten.

Was ist passiert in den Ställen, als die Diktatur aufgebaut wurde? Wie wurde die Lebensmittelproduktion, im Allgäu vor allem die Milchwirtschaft, gleichgeschaltet? Wie erging es den Menschen, wie wurden sie versorgt, woher kamen sie, auch all die Zwangsarbeiter, die auf den Höfen schuften mussten?

Wie Gift sickerte die „Blut und Boden“-Ideologie bis in die Stuben und Ställe, heißt es auf einer der grafisch eindrücklichen und mit vielen Details angereicherten Schautafeln. Die Nazis wollten das Reich in der Lebensmittelproduktion autark machen, um den Krieg zu ermöglichen. Der Vierjahresplan aus dem Jahr 1936 gab die Richtung vor: eine systematische Datensammlung über Menschen, Höfe, Tiere und Produktion. Bauern mussten detailliert Auskunft geben, was und wie viel davon sie produzieren. 1938 waren mehr als zwei Millionen Höfe erfasst, etwa 85 Prozent der Betriebe.

Autarkie erreichten die Nationalsozialisten nie

Bald gab die Planwirtschaft der Nationalsozialisten den Landwirten exakt vor, was sie zu liefern hatten, doch die Autarkie blieb Illusion. Vor allem Öle, Fette und Eiweiß wurden nicht ausreichend produziert, weshalb die Diktatur heimische Lebensmittel rationierte und Rezepte anpries, wie es in der Ausstellung heißt: „Der fettfreie Eintopfsonntag, das völkisch aufgeladene Vollkornbrot, Rübenzucker, Marmelade und Industrie-Ersatzprodukte sollten die Heimatfront sättigen.“

Die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft hat das Projekt gefördert, das nun in die Ausstellung mündet. Jens Schley, wissenschaftlicher Geschäftsführer der Bildungsagenda NS-Unrecht der Stiftung, berichtet von einer jährlichen Studie zum Stand der Erinnerungskultur in Deutschland, die eine Konstante habe: Es nehme leider immer mehr zu, dass Menschen zwar viel wissen über die NS-Zeit, aber dieses Wissen nicht mit dem Geschehen vor Ort verbinden können. „Es bleiben erstaunlich blinde Flecken.“

In Halle II der Allgäuhalle findet die Ausstellung statt.Dort hielt Hitler 1932 eine Rede, später war die Halle Durchgangslager für Zwangsarbeiter aus dem besetzten Polen.
In Halle II der Allgäuhalle findet die Ausstellung statt.Dort hielt Hitler 1932 eine Rede, später war die Halle Durchgangslager für Zwangsarbeiter aus dem besetzten Polen. (Foto: Ralf Lienert/kemptenfoto.de)

In Kempten sind sie seit einigen Jahren dabei, genau diese Flecken zu beseitigen. Die Stadt hat eine Kommission für Erinnerungskultur gegründet und arbeitet mit dem Institut für Zeitgeschichte in München und Berlin zusammen. Als Oberbürgermeister höre er immer wieder, sagt Thomas Kiechle, dass man einen Schlussstrich ziehen solle. „Diesem Trugschluss müssen wir uns stellen.“ Darum sei die Ausstellung eine Chance, die Wissenslücken zu schließen, weil sie die Historie mit persönlichen Lebenserfahrungen verankere und Besucher so auf ganz neuem Niveau verinnerlichen lasse. „Es geht weg vom Geschichtsbuch, hin zum Alltagsleben“, sagt Kiechle.

Das beginnt schon damit, dass die Ausstellung in der sogenannten Kälberhalle aufgebaut ist: Sie war Ort einer Hitlerrede im Wahlkampfjahr 1932, später dann Durchgangslager für Zwangsarbeiter aus dem besetzten Polen und in den letzten beiden Kriegsjahren Außenlager des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau. Heute stehe sie zudem für viele Allgäuer, sagt Oberbürgermeister Kiechle, als „Traditionsstelle für Milchwirtschaft“ in Kempten. Dort eine Ausstellung mit diesem Thema zu öffnen, sei „ein neuer Weg, den wir beschreiten.“

„Nur der deutsche Volksgenosse gehört in unsere Tischgemeinschaft!“

Dort also, wo früher die Zwangsarbeiter hintransportiert wurden, sind heute Zeichnungen aus der NS-Zeit zu sehen, die der Landbevölkerung bildlich zeigen, dass ein polnischer Zwangsarbeiter nicht am selben Tisch wie die Bauersfamilie essen sollte. „Nur der deutsche Volksgenosse gehört in unsere Tischgemeinschaft!“, steht darunter geschrieben. Der Besucher liest auch die Geschichte des polnischen Zwangsarbeiters Stanislaw Symczak, der von einem Bauern verprügelt und schließlich mit Gefängnis bestraft wurde, weil er einen Mantel kaufen wollte. Es ist eine Stärke der Ausstellung, dass sie oft die Perspektive wechselt: vom Zwangsarbeiter zum Bauern, vom Soldaten zum verfolgten Juden.

Es sei der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft ein Anliegen, Projekte mit neuen, innovativen Zugängen zu fördern, sagt Stiftungsvertreter Jens Schley. Die gilt nicht nur, weil erstmals Nationalsozialismus und Landwirtschaft umfassend beleuchtet werden. Sondern auch, weil die Ausstellung partizipativ mit der Allgäuer Bevölkerung zusammenarbeitet. „Im Ergebnis kann man sagen, dass die Menschen vor Ort große Bereitschaft zeigen, eigene Geschichten zu teilen und dankbar sind, dass dieses Thema jetzt thematisiert wird“, sagt Kuratorin Heilmannseder.

Das Motto „hands on history“, also selbst aktiv zu werden, zeigt sich noch in der Ausstellung selbst. An einer „Wand der Erinnerungen“ sollen Besucher teilen, was sie noch wissen aus der NS-Zeit, was ihnen erzählt wurde, welche Bilder daraus in ihren Köpfen entstanden sind. „Es ist ernst gemeint“, sagt Museumsleiterin Müller Horn, „dass man da eigene Geschichten hinterlassen kann.“

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