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Neues Angebot für „Systemsprenger“: Zuflucht für Kinder, die keiner will | ABC-Z

Berlin taz | Die ersten beiden „Systemsprenger“ kamen am Dienstag. Darunter ein zehnjähriger, schwer verhaltensauffälliger Junge. Kinder wie er, die als nicht integrierbar gelten und daher aus anderen Kriseneinrichtungen rausfliegen oder dort gar nicht erst aufgenommen werden, finden im „Lichtpfad“ in der Urbanstraße in Berlin-Kreuzberg eine Zuflucht. „Es ist ein sicherer Rückzugsort für junge Menschen in akuten Krisen“, sagt Jugendstadtrat Max Kindler (CDU) bei der Eröffnung am Montagnachmittag.

Maximal sechs Kinder im Alter von 8 bis 13 Jahren können hier untergebracht werden. Die Räume sind hell und mit freundlichen Farben gestrichen. Es gibt Einzel- und Doppelzimmer, in denen sich neben einem kleinen Bett noch eine Kommode, ein Schrank und ein kleiner Schreibtisch befinden. Das Besondere: Der „Lichtpfad“ hat eine Aufnahmeverpflichtung. Das heißt, die Einrichtung muss Kinder in Not rund um die Uhr aufnehmen – sofern nicht alle Plätze belegt sind. Und sie können bleiben, egal, was passiert.

Immer wieder werden besonders schwierige Kinder von Einrichtungen abgelehnt oder rausgeschmissen

Das ist im völlig überlasteten Berliner Jugendhilfesystem nicht selbstverständlich. Rund 9.000 Plätze in Jugendeinrichtungen gibt es in der Hauptstadt. Immer wieder werden besonders schwierige Kinder von den Einrichtungen abgelehnt oder rausgeschmissen, weil die Kapazitäten für eine angemessene Betreuung fehlen.

Also kommen sie in die Obhut des Kindernotdienstes. Der ist aber eigentlich nur für einen kurzen Aufenthalt gedacht, bis eine Unterbringung gefunden wird. Die Folge: Ein hoffnungslos überlasteter Kindernotdienst und Kinder, die nicht die Hilfe bekommen, die sie brauchen. Mitte vergangenen Jahres kam es wegen Überbelegung und Personalmangel in Einrichtungen des Kinder- und Jugendnotdienstes sogar zu einem Aufnahmestopp. Wer bereits einen Platz in einer stationären Einrichtung hatte und etwa aus disziplinarischen Gründen entlassen wurde, wurde nicht mehr aufgenommen.

Ein bundesweit einmaliges Konzept

Das betrifft insbesondere die sogenannten Systemsprenger, die die Gruppen in den Jugendhilfeeinrichtungen „sprengen“ und daher immer wieder rausgeschmissen werden. Mit Projekten wie dem „Lichtpfad“ soll der „Drehtüreffekt“ verhindert werden, also dass Kinder zwischen Einrichtungen der Jugendhilfe und dem Kindernotdienst hin und her pendeln. „Die Kinder kommen nirgendwo richtig an und finden keinen Halt. Diesen Kreislauf müssen wir durchbrechen“, sagt Jugendstaatssekretär Falko ­Liecke (CDU) bei der Eröffnung.

Insgesamt fünf Millionen Euro stellt die Senatsjugendverwaltung für den Aufbau solcher Einrichtungen für die Jahre 2024 und 2025 zur Verfügung. Der „Lichtpfad“ ist die erste dieser Art – und mit seiner Aufnahmeverpflichtung bundesweit einmalig.

Mit dem Geld kann der Träger Ostkreuz City unter anderem einen guten Personalschlüssel finanzieren: 9,5 Vollzeitstellen für 6 Kinder, die rund um die Uhr betreut werden. Darunter Erzieher*innen, So­zi­al­ar­bei­te­r*in­nen und Psycholog*innen. Die bekommen zusätzlich noch traumapädagogische Schulungen. Denn viele der Kinder kommen aus extrem gewalttätigen Verhältnissen und oder haben sexuelle Gewalt erlebt und sind daher selbst gewalttätig, hochsexualisiert oder auch suizidgefährdet.

Damit umzugehen ist nicht leicht. Der Geschäftsführer von Ostkreuz City, Joachim Röhmhild, hat trotz berlinweitem Personalmangel zwar ausreichend Mit­ar­bei­te­r*in­nen gefunden – das heißt aber nicht, dass diese auch bleiben. „Ich rechne damit, dass die Hälfte im ersten Jahr wieder aufhört“, sagt Röhmhild.

Die Sozialarbeiterinnen Sofie Kietzke und Anna Donath freuen sich trotz der schwierigen Aufgabe, dass es nun losgeht. „Der nötige Respekt ist schon dabei, aber auch viel Vorfreude und Neugier“, sagt Donath. Ihre Kollegin Kietzke sagt, sie blühe in Krisensituationen erst richtig auf. Gut findet sie auch die Altersgruppe 8 bis 13: „Da hat man die Möglichkeit, noch etwas zu erreichen.“

Jugendhilfesystem ist am Limit

Maximal sechs Monate sollen die „Systemsprenger“ im „Lichtpfad“ bleiben. „Der Auftrag ist, die Krisensituation zu beruhigen und Perspektiven zu finden“, sagt Röhmhild. Also: Sicherheit vermitteln, Stabilisierung und Empowerment, um dann eine langfristige Unterbringung zu ermöglichen.

Bislang gibt es dieses Angebot nur in Friedrichshain-Kreuzberg. Kinder aus anderen Bezirken kann der „Lichtpfad“ zwar aufnehmen – die Verpflichtung dazu gilt für sie aber nicht. Staatssekretär Liecke hofft, dass andere Bezirke nachziehen. Mit Pankow und Lichtenberg liefen Verhandlungen, ein Träger sei auch schon gefunden, so Liecke.

Bis dahin bleibt die Einrichtung in Kreuzberg ein Tropfen auf dem heißen Stein. Den Bedarf in ganz Berlin kann sie mit ihren sechs Plätzen nicht decken. Denn seit Corona gibt es immer mehr junge Menschen mit psychischen Krisen. Laut Studien leidet mittlerweile mehr als ein Fünftel aller Kinder und Jugendlichen unter psychischen Störungen.

Mit entsprechenden Konsequenzen: „Das ganze Jugendhilfesystem ist an seine Grenzen gekommen“, sagt Joachim Röhmhild. Die Lage sei „dramatisch“: „Es gibt nicht genug Plätze, Sozialarbeiter, Erzieher.“ Genug Potenzial also, um das System zu sprengen.

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