Der Natur ist der Mensch egal: Bergrutsch in der Schweiz | ABC-Z

Räumen wir zunächst die unsinnigste aller Bergmetaphern zur Seite, nämlich, dass die Natur zurückschlage und sich wehre wie ein wildes Pferd, das niemanden auf seinem Rücken sitzen haben möchte. Wobei in frühen Darstellungen der Furcht vor dem Berg ein Pferd nicht genügte, sondern die Urlandschaft in einem mystisch verklärten Holzschnitt als schlafender Lindwurm gezeigt wurde, von dem niemand sagen konnte, wann er aufwachen und all das abschütteln würde, was auf seinen Flanken errichtet wurde.
Aber jedermann wusste, dass dies kein Spaß werden würde. Als „schröckliche Wildnis“ hat man die Alpen noch im 18. Jahrhundert bezeichnet, und manche frühe Reisende zogen bei einer Fahrt mit der Kutsche über die Pässe der Schweiz vorsichtshalber die Vorhänge vor den kleinen Fenstern zu, um dem furchterregenden Anblick zu entgehen. Die Brücke am Gotthard über die Schöllenenschlucht heißt nicht grundlos Teufelsbrücke. Er soll sie gebaut haben.
Die weiße Rache der Berge
Die Berge waren nie der Freund des Menschen, ebenso wenig wie die restliche Natur. Wenn es so wäre, gäbe es keine Professoren mit einem Lehrstuhl für Hangbewegungen und keine für Naturgefahren zuständigen Ingenieure in der Schweiz, die jetzt vor die Kameras der Fernsehsender treten, um zu erklären, was am Kleinen Nesthorn oberhalb der Gemeinde Blatten im südlichen Wallis geschehen ist. Ohne Respekt oder gar Furcht hätte es auch die Seismographen nicht gegeben, die seit Wochen den Bergsturz vorausberechnet haben, der vor drei Tagen mit dem Birchgletscher anderthalb Millionen Kubikmeter Eis, Stein und Schlamm ins Tal hinunterjagte.
Und hätten sie an die Freundlichkeit der Natur geglaubt statt den Ort rechtzeitig zu verlassen, wären die 300 Dörfler jetzt tot. Wer am Berg wohnt, begegnet ihm mit Ehrfurcht. Allemal mit Respekt. Dennoch: Weder schlägt die Natur zurück, noch verwöhnt sie die Menschen. Der Natur ist der Mensch egal. Sie ist nicht dessen Mutter. Und schon gar nicht fürsorgend. Und doch reagierte noch vor einem Vierteljahrhundert etwa bei den katastrophalen Lawinenunglücken im Oberengadin, in deren Verlauf mehr als 60 Menschen ums Leben kamen, die Presse mit Schlagzeilen wie „Der Berg kommt“, „Die weiße Rache der Berge“ und „Der weiße Tod schlägt zu“.
Woher dann dieses andere Bild der Berge, dieses Bild des Friedens? Die Freude an Gipfeln, die am Himmel kratzen. Dieser Glaube, einen Moment der Unendlichkeit zu erhaschen, wenn man einem Massiv aus Stein gegenübersteht. Weil sie der Sitz der Götter waren, wie der Olymp? Weil die Arche nach der Sintflut auf dem Berg Ararat strandete? Weil Moses die Gesetzestafeln auf dem Berg Sinai aus Gottes Hand erhielt? Und Jesus seine Lehre ausgerechnet in der Bergpredigt zusammenfasste? Andererseits versammeln sich einmal im Jahr auf dem Brocken die Hexen. Und als Petrarca im April des Jahres 1336 den 1909 Meter hohen Mont Ventoux bestieg, genoss er zunächst die Aussicht „einem Betäubten gleich“, hatte dann aber nichts Besseres zu tun, als in den Bekenntnissen des Augustinus zu blättern, die heute kaum noch ein Bergsteiger im Rucksack mit sich trägt.
Die Engländer kamen zuerst
Er stieß ausgerechnet auf die Stelle, wonach die Menschen hingehen, „zu bewundern die Höhe der Berge und verlassen dabei sich selbst“. Sein unnützes Abenteuer bereuend, geradeso, als schäme er sich der Verführung durch die Natur, stieg er zurück in die Ebene. Das ist lange her. Und größer könnte der Gegensatz nicht sein zur Philosophie des amerikanischen Naturapostels John Muir, der sich 1901 in seinem Buch über Amerikas Nationalparks zu einem Aphorismus hinreißen ließ, wonach in die Berge zu gehen bedeute, nach Hause zu kommen.
Es war ein mühsamer Weg dorthin, der die Kunst und die Philosophie als Etappen brauchte, um letztlich beim Fremdenverkehr zu enden. Denn es waren ja nicht die Einheimischen, die sich aufmachten, an kristallklaren Bergseen Herzensergüsse zu erleben, durch idyllisch wirkende Täler zu wandern und lotrecht aufsteigende Gipfel hinaufzuklettern. Es waren Ausländer. Aus England kamen sie zuerst. Aus der restlichen Welt später.

Bevor es professionelle Bergführer gab, verließen sie sich auf die Erfahrungen solch dubioser Gestalten wie Kristallsucher und Schmuggler, deren Verhältnis zum Berg keineswegs von Leidenschaft geprägt war, sondern von Berechnung. Abgebildet in fremder und eigener Währung. Und selbst als in den Alpen großartige, moderne Hotels von der Größe und dem Aussehen von Schlössern errichtet wurden, schüttelten die Bergbauern, in deren Stuben die Touristen bis dahin eher notdürftig untergebracht waren, noch immer die Köpfe angesichts der Heerscharen von Bergverrückten.
Es waren keine Besucher aus der Provinz, die in den Bergen eine Schönheit erkannten, die den Einheimischen über Jahrhunderte hinweg verborgen geblieben war. Es waren Großstädter. Sie waren überzeugt, in der Wildnis ein Refugium zu finden, ihren eigenen Spielplatz, wie sie sagten, in dem nicht nur der Mensch sich austoben konnte, sondern auch der Geist. Die unberührte Wildnis setzte Sigmund Freud gleich mit dem Unterbewusstsein: als einen Freiraum, ungestraft zu denken, was immer man wolle.
Landschaft als Kulisse
Die Kunst des Mittelalters hatte die Landschaft noch als Kulisse genutzt, blieb der möglichst exakten Darstellung der Bergwelt verhaftet und schaffte es nicht, sie um ihrer selbst willen zu betrachten. Erst die Renaissance knüpfte wieder an ein hellenistisches Naturgefühl an. Dann erst, allmählich, brachen sich sentimental-idyllische, elegische und insgesamt sympathische Naturgefühle Bahn – und zögerten doch, die massive Bergwelt miteinzubeziehen. Noch spielte der Hirte seine Flöte unter einem Baum in der Ebene und nicht auf blankem Fels.
Mit der Romantik aber konnten die Berge gar nicht mehr grandios genug dargestellt werden. Im Dreisprung vom Schönen über das Pittoreske zum Erhabenen erlebte der Betrachter nun vor Bildern jenen leichten Schauder, der sich zur Wohligkeit eines Gefühls bündeln ließ, das vor den Kunstsammlern nicht haltmachte, sondern sich verbreitete und von Besuchern der Berge nachempfunden werden wollte. Dabei schadete es der Betrachtung keineswegs, wenn dem Menschen auch seine Schranken vor Augen geführt wurden.
Was eben noch majestätische Landschaft ist, kann mit einem Mal zur mörderischen Wüstenei aus glitzerndem Eis und Zacken nackten Felses werden, die wie Reißzähne in den Himmel ragen. Beim Abstieg von der Erstbesteigung des Matterhorns durch Edward Whymper am 14. Juli 1865 stürzten vier Bergsteiger der Gruppe in den Tod. Ohne Bezug, aber nicht von ungefähr tummeln sich fünf Jahre später auf einem Gemälde Arnold Böcklins dämonische Drachen in Felsenschluchten.
Und jetzt lauter Videos vom Bergrutsch in den sozialen Medien, als hätten Kamerateams nur darauf gewartet, einen Gewaltausbruch, wie man ihn sonst nur von Vulkanen kennt, auf Film zu bannen. Wie in Zeitlupe rollt der Schutt den Berg hinab, gleicht erst einem finsteren Wasserfall, dann den Wolken einer Atombombenexplosion, die das Tal verfinstern, während das Geröll auf der anderen Seite des Bergs wieder nach oben steigt und am Ende neunzig Prozent des Dorfes bedeckt. Die Erschütterung sorgte für ein Erdbeben von 3,1 auf der Richterskala. Das hat man noch nie gesehen. Will es auch nie wieder sehen. Und schaut doch hin. Geologen behaupten, zu solchen Erdrutschen käme es in Zukunft häufiger.