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Neue Thora für Jüdische Gemeinde: Eine Königin aus Israel | ABC-Z

Dow Aviv schiebt den dunkelblauen Vorhang mit der kunstvoll aufgestickten Tafel mit den zehn Geboten, den beiden siebenarmigen Leuchtern und der Krone zur Seite. Dahinter erscheint ein Schrank aus dunklem Holz. Aviv schließt ihn auf und schwenkt die beiden Türen zur Seite.

So gibt er den Blick auf einen wahren Schatz frei. „Die Thora ist für uns so etwas wie eine Königin, deshalb trägt sie ein Kleid, eine Krone und Schmuck“, sagt der Vorsitzende der Gießener Jüdischen Gemeinde. Das Kleid besteht aus dunkelblauem Samt, die Krone und der an ein Brustschild erinnernde Schmuck mit der Gebotetafel glänzen silbrig.

Die 270 Mitglieder der nur wenige Schritte vom Stadtkirchenturm entfernt gelegenen Gemeinde könnten sich noch viele Jahre mit dieser Königin vorstellen – aber sie kommt ihnen bald abhanden. Die Gemeinde nutzt diese Thora schon seit mehr als 15 Jahren, allerdings ist sie geliehen. Und jetzt will der Eigentümer sie zurückbekommen. Er sei aus dem Gießener Raum weggezogen und hänge sehr an seiner Leihgabe, erläutert Aviv die Situation.

„Sie sind nicht mehr koscher“

Nun flankieren zwei weitere gekrönte Schriftrollen die Königin. Doch sie sind schon viele Jahrzehnte alt und waren auch schon gebraucht, als sie in den Besitz der Gemeinde kamen. Die eine Thora kam 1978 restauriert an die Lahn, die zweite nach dem Bezug der von Wohratal im Marburger Land nach Gießen transferierten und 1995 eingeweihten kleinen Landsynagoge. „Sie war in relativ gutem Zustand, und wir haben sie lange genutzt“, sagt Aviv.

Aufschluss: Gemeinde-Vorsteher Dow Aviv öffnet den Thora-Schrein in der Gießener SynagogeLucas Bäuml

Viele mit Tinte aufgetragene Buchstaben sind aber längst nicht mehr leserlich, und so taugt das Stück nicht mehr für eine Thora­lesung. „Sie sind nicht mehr koscher“, erläutert der Vorsitzende. So kam der Gemeinde vor 15 Jahren das Angebot eines Mitglieds gerade recht, eine andere Thora zu spenden – nur ließ er sich damals urkundlich festschreiben, dass er der Eigentümer bleibe.

Diese Gemengelage stellt die Gemeinde nun vor eine Herausforderung. Der Leihgeber hätte seine Thora, die den ersten Teil der hebräischen Bibel darstellt, „am liebsten gestern“, wie Aviv sagt, zurück. Wobei „gestern“ schon seit einigen Wochen gilt. Gäbe es solche Schriftrollen von der Stange, wäre das keine große Sache.

Anfertigung nach strengen Regeln der Schreibkunst

Die Gemeinde könnte sich zwar eine andere leihen, nur will sie das nicht. Eine Thora ist aber kein industriell hergestelltes Produkt, von heute auf morgen lässt sich eine solche Schriftrolle mit den fünf Büchern Mose nicht erwerben.

Das hat mehrere Gründe: Erstens darf sie nur nach strengen Regeln geschrieben werden, wie Aviv sagt. Und zwar von einem eigens ausgebildeten Schreiber, einem Sofer. Für seine Arbeit dürfe er nur dreierlei nutzen: aus der Haut einer Kuh, eines Schafs oder einer Ziege hergestelltes Pergament, einen Federkiel und Tinte.

Drittens sei es eine Kunst für sich, die Buchstaben auf das Pergament zu malen. Jede Zeile müsse links und rechts bündig abschließen. Fünftens dürfe der Sofer kein Wort trennen. Aviv: „Er muss also im Kopf ausrechnen, wie viele Buchstaben in eine Zeile passen.“ Das bedeute, im Zweifel einige Buchstaben breiter oder schmaler zu malen als üblich.

Neue Thora wird rund 48.000 Euro kosten

Darüber hinaus sei weder ein Punkt noch ein Komma erlaubt, auch kein Vokal. Dafür müsse der Schreiber aber Worte auf eine bestimmte Weise dekorieren, damit sich der Text für einen Gesang eigne und nicht nur für eine Lesung. Und: „Macht er einen Fehler, muss er den ganzen Bogen neu beschriften“, sagt der Vorsitzende – Tipp-Ex war nicht vorgesehen, als die Regeln zum Fertigen einer Thora ehedem festgelegt wurden.

Migrant: Die Gießener Synagoge stand ehedem im Marburger Land
Migrant: Die Gießener Synagoge stand ehedem im Marburger LandLucas Bäuml

Diese Vorschriften lassen erahnen: Auf die Schnelle kann kein Sofer eine Thora anfertigen. Vom ersten bis zum letzten Federstrich vergehen normalerweise sechs bis 18 Monate. Das hängt laut Aviv davon ab, wie gut ein Sofer ausgebildet und wie erfahren er sei. Erschwerend kommt hinzu: Schreiber dieser Art sind rar, in Deutschland kennt Aviv nur drei. Zudem könne eine Schriftrolle in vier Schriftbildern angelegt werden.

Deshalb hätten sich der Rabbiner, der Vorbeter, der Synagogendiener und zwei Mitglieder der Gemeinde, die regelmäßig aus der Thora lesen, auf ein Schriftbild für die neue Thora geeinigt. Auf der Suche nach einem geeigneten Sofer, der auf die Wünsche aus Gießen eingeht, ist die Gemeinde schließlich in Bnei Berak nahe Tel Aviv fündig geworden – und der Fachmann dort weiß, dass er sich nicht viel Zeit lassen kann mit seiner Arbeit.

Zum Zeitdruck kommen die Kosten. Der Schreiber verlangt etwa 48.000 Euro für die Schriftrolle von der Gemeinde, genau kann Aviv die Summe in Euro nicht beziffern, denn der Israeli bevorzugt die ihm vertraute Währung Schekel, deren Wechselkurs schwankt. Klar ist: Alleine kann die Gemeinde das Projekt nicht stemmen. Erste Spenden reichen immerhin für eine Anzahlung.

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