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Neue Denkschrift : Die Evangelische Kirche bricht mit ihrer Friedensethik | ABC-Z

Wenn man die Frage von Krieg und Frieden in langen Linien betrachtet, bildet die neue Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) eine Zäsur. Der Text und auch die Kirchenleitung geben sich zwar alle Mühe, diesen Bruch mit der Beteuerung zu verschleiern, dass die bisherige Friedensethik der EKD bloß „aktualisiert und konkretisiert“ werde und es sich lediglich um „Neuakzentuierungen“ der bisherigen Lehre handele.

Doch wenn man die am Montagvormittag auf der EKD-Synode in Dresden veröffentlichte Denkschrift neben die bisher gültige Denkschrift aus dem Jahr 2007 legt oder die spätere Friedens-Kundgebung der EKD-Synode von 2019, lässt sich der inhaltliche Bruch schwerlich übersehen. Die evangelische Kirche verabschiedet sich mit ihrem neuen Papier vom Pazifismus, sofern man diesen als politische Lehre begreift. „Christlicher Pazifismus ist als allgemeine politische Theorie nicht zu begründen“, heißt es in der Denkschrift.

Die vorangegangenen EKD-Texte hatten die Signale noch genau in die entgegengesetzte Richtung gestellt. Die Denkschrift von 2007 gestand zwar zu, dass die Anwendung „rechtserhaltender Gewalt“ als „ultima ratio“ möglich bleiben müsse. Doch wie zuvor schon die katholische Deutsche Bischofskonferenz ersetzte die EKD damals die traditionelle Lehre vom „gerechten Krieg“ durch das Konzept eines „gerechten Friedens“. Anstatt also den Beginn und das Ausfechten militärischer Konflikte klar an Kriterien wie einen legitimen Grund oder die Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Mittel zu knüpfen, verlegte man sich auf das deutlich anspruchsvollere, dadurch aber auch schwerer greifbare Konzept des „gerechten Friedens“.

Konversion der Bundeswehr in ein internationales technisches Hilfswerk

Dem neuen Leitbild des gerechten Friedens wohnte zudem die Tendenz inne, sich die Welt und ihre Mächtigen etwas freundlicher und das Anliegen der Humanität zugänglicher vorzustellen als sie es tatsächlich sind. Diese Entwicklung gipfelte in einem Beschluss der EKD-Synode im Jahr 2019. Der deutsche Protestantismus glaubte damals, 30 Jahre nach dem Fall der Mauer, auch auf dem Gebiet der Friedensethik noch eine dicke Dividende einstreichen zu können, während Putin bereits einen blutigen Krieg im Donbass führte und erkennbar auf mehr sann.

Die EKD-Synode forderte damals gleichwohl einen Beitritt Deutschlands zum Atomwaffenverbotsvertrag und zwei Prozent des deutschen BIP für die zivile Konfliktbewältigung auszugeben – eine kaum überhörbare Kritik am Zwei-Prozent-Ziel der Nato. Und sollte einer der immer zahlreicher werdenden Autokraten sich doch zum Angriff entschließen, empfahl die EKD angeblich „erprobte Konzepte“, um ihm mit zivilem Widerstand siegreich entgegenzutreten. Die Begleitmusik zu dem Synodenpapier von 2019 bildete das Planspiel „Sicherheit neu denken“ aus der badischen Landeskirche, in dem das Ziel einer Konversion der Bundeswehr in ein internationales technisches Hilfswerk ausgegeben wurde.

Der russische Überfall auf die gesamte Ukraine im Februar 2025 bedeutete für die EKD daher einen besonders harten Zusammenstoß mit der Realität – zumal deren Blick nach Osten demjenigen der SPD jahrelang zum Verwechseln ähnlich war. Das Ansinnen einiger Synodale, diese Vergangenheit historisch aufzuarbeiten, hat die EKD-Führung zwar zurückgewiesen. Aber der EKD-Rat beschloss, die alte Friedendenkschrift von 2007 nicht bloß an einigen Punkten zu korrigieren, sondern durch eine neue zu ersetzen. Dies geschah in einem drei Jahre währenden, durchaus windungsreichen Prozess, auf den der zuvor lange tonangebende pazifistische Flügel zuletzt keinen großen Einfluss mehr nahm. Der vorgelegte Text wurde stattdessen federführend erarbeitet von der Berliner Akademiedirektorin Friederike Krippner und dem Münchener Ethikprofessor Reiner Anselm.

„Gewalt muss – notfalls mit Gegengewalt – eingedämmt werden“

Das 2007 eingeführte Leitbild vom „Gerechten Frieden“ bleibt in der neuen Denkschrift zwar erhalten, wird nun aber deutlich stärker an das Leitbild des „Gerechten Krieges“ zurückgebunden: Die Vorstellung, dass ein Krieg gerecht sein könne, müsse theologisch zwar zurückgewiesen werden. Aber die traditionellen Kriterien für einen „Gerechten Krieg“ könnten „auch weiterhin“ als Maßstab dienen. Zur bisherigen Denkschrift von 2007 heißt es selbstkritisch, diese habe „großen Erwartungen und starken Friedensansagen Raum gegeben“, gegenüber denen der basale Schutz vor Gewalt verblasst sei. Dieser sei jedoch „unabdingbare Voraussetzung“ für Frieden und Freiheit und darum das höherstufige Gut: „Gewalt muss – notfalls mit Gegengewalt – eingedämmt werden.“

Brisant sind die Passagen zum Pazifismus: Dieser wird zwar als „Ausdruck individueller Gewissensentscheidung“ gewürdigt sowie als „Impulsgeber“ und „Zeichenhandlung“ für ein geschärftes gesellschaftliches Bewusstsein. Aber: „Als universale politische Ethik lässt sich der Pazifismus des kategorischen Gewaltverzichts ethisch nicht legitimieren.“

Die Bonhoeffer-Niemöller-Stiftung, eine pazifistisch ausgerichtete Initiative in der evangelischen Kirche, zeigt sich angesichts solcher Aussagen empört und hält der neuen EKD-Denkschrift nicht ganz zu Unrecht vor, dass sie den Pazifismus „zum frommen Fundamentalismus deformiert“, um ihn „dann umso einfacher zur Seite legen zu können.“

Eschatologie rückt wieder an die Stelle der Utopie

Die EKD-Denkschrift selbst spricht davon, dass sie einen „falschen idealistisch-utopischen Überschuss“ korrigiere. Das zielt auf die insbesondere hinter dem EKD-Papier von 2019 waltende Vorstellung, dass die Menschheit dem göttlichen Frieden durch eigenes Zutun innerweltlich quasi schon den Weg bereite. An die Stelle dieser tendenziell reformierten Vorstellung rückt nun wieder das lutherische Abstandsgebot zwischen Himmel und Erde. Oder, theologisch gesprochen, die Eschatologie rückt wieder an die Stelle der Utopie.

Der göttliche Frieden leuchtet nun nicht mehr als erreichbarer Grenzstein am Horizont. Sondern der göttliche Friede ist wieder eine Verheißung, die der Mensch in seinem Herzen tragen und in der Welt wirksam werden lassen soll, den Staat gleichwohl aber nicht aus der Pflicht entlässt, den in dieser Welt herrschenden Mächten der Sünde und der Gewalt notfalls mit der Waffe Einhalt zu gebieten. Wer dabei als Soldat nach sorgsamer Prüfung seines Gewissens mittut, sei „moralisch und rechtlich ohne Schuld“, heißt es in der neuen Denkschrift. Gegenüber Gottes Gebot, daran hält die Denkschrift eindeutig fest, werde man durch die Ausübung von Gewalt jedoch schuldig. Denn für die christliche Religion bleibe auch der Feind immer zugleich Mensch und Geschöpf Gottes.

Die evangelische Friedensethik biegt mit der neuen Denkschrift insgesamt wieder auf eine eher traditionelle Bahn ein, die eine Schärfung der Gewissen mit innerweltlichem Realismus verbindet. Dies gilt allerdings nur für die grundlegenden Argumentationsfiguren. Weil es sich bei einer Denkschrift immer um ein Kompromisspapier handelt, durften sich in dem Haus der Denkschrift auch Interessensgruppen Wohnungen einrichten, was der Stringenz abträglich ist und die Lektüre bisweilen mühsam macht.

Distanz wahren zu jeglicher Verherrlichung des Militärischen

Für die aktuelle Debatte ist bedeutsam, dass die evangelische Kirche Distanz zur Forderung von Verteidigungsminister Boris Pistorius wahrt, dass Deutschland „kriegstüchtig“ werden müsse. Es sei zwar zutreffend, dass die Bundeswehr derzeit nicht ausreichend gerüstet sei für den Verteidigungsfall. Eine evangelische Ethik müsse jedoch Distanz wahren zu jeglicher Verherrlichung des Militärischen. Der Begriff der „Kriegstüchtigkeit“ sei daher nur als erläuternde Bestimmung von „Verteidigungsfähigkeit“ vertretbar, keinesfalls umgekehrt.

Zu den Atomwaffen heißt es wie bisher, diese seien „in keiner Weise ethisch zu legitimieren“. Aber es folgt sogleich die argumentative Fußangel: Ein einseitiger Verzicht auf Atomwaffen sei „kaum politisch zu vertreten“. Der Besitz von Nuklearwaffen und die nukleare Teilhabe Deutschlands müssten zwar stets von glaubwürdigen Initiativen zur Rüstungskontrolle begleitet werden, könnten aber eine „ethisch begründbare Entscheidung“ darstellen. Auch an diesem Punkt positioniert sich die EKD mit ihrer neuen Denkschrift somit deutlich anders als noch 2019.

Die Aussagen zur Wehrpflicht fügen sich hingegen nicht ganz zur neuen Linie. In den entsprechenden Passagen wird zwar zugestanden, dass es angesichts der neuen Weltlage gelte, die „eigene Fähigkeit zur Landes- und Bündnisverteidigung substanziell auszubauen“. Doch die Denkschrift scheut den Schritt zurück zur Wehrpflicht oder zu einer allgemeinen Dienstpflicht, den viele Fachleute für geboten halten. Stattdessen argumentiert das Papier etwas umständlich für einen „Ausbau des Freiwilligendienstes sowohl in der Bundeswehr wie auch in zivilen Bereichen“. Das steht aber in einer inhaltlichen Spannung zu dem christlichen Realismus, der ansonsten die Grundlage der Denkschrift bildet. Dafür gibt es auch einen handfesten Grund: Die Passagen zur Wehrpflicht, die ursprünglich dem Vernehmen nach auf eine Dienstpflicht hinausliefen, wurden nachträglich verändert und derjenigen, SPD-nahen und pflichtskeptischen Linie angepasst, den die Kirchenspitze in der aktuellen Wehrpflichtdebatte vertritt.

Die spannende Frage auf der diesjährigen EKD-Synodentagung in Dresden lautet, wie die neue Friedensethik dort aufgenommen wird. Das Kirchenparlament kann gegen Denkschriften zwar wenig ausrichten, weil diese allein vom Rat beauftragt und angenommen werden. Mit Spannung wird aber verfolgt, ob sich aus den Reihen der Synode nach der Präsentation der Denkschrift am Montag offener Widerspruch regen wird.

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