Netflix-Serie “Adolescence“: “Wir können uns eine Scheibe von den Engländern abschneiden” | ABC-Z

Björn Süfke ist Buchautor, Berater und Männer-Psychologe aus Lübeck. Mit der AZ hat er über die Netflix-Serie “Adolesence“ und toxische Männlichkeit gesprochen.
AZ: Herr Süfke, es gibt den streitbaren Fußball-Coach José Mourinho, der sich “The Special One” nennt. Dann Jürgen Klopp, der Liebling der Deutschen. Als “The Normal One”, stellte er sich bei Liverpool als Trainer vor. Sie schreiben auf Ihrer Homepage, dass Sie “The Boring One”, also der Langweilige, seien. Warum?
Björn Süfke: Das ist ein wenig selbstironisch gemeint. Viele Männer haben ja die Gabe, sich selbst wahnsinnig wichtig zu nehmen. Das haben die Frauen im Gegenzug in den wenigsten Fällen, so eine Egozentrik, so eine unerreichte Selbstüberhöhung. Was ich mit “langweilig” meine, ist, dass ich mich seit 30 Jahren nur einem einzigen Thema widme: den Männern.
Warum reden Frauen immer mit Frauen über Frauen-Themen, Männer mit Männern, aber nie über Männer-Themen?
Ich bitte Sie! Ein Mann hat doch keine Probleme! Im Ernst: Natürlich haben Männer genauso wie Frauen mit seelischen und psychischen Herausforderungen zu kämpfen.
Das bedeutet?
Das Patriarchat verwehrt uns Männern seit jeher den Zugang zu unseren Gefühlen. Schon als Junge werden wir doch auf Kraft, Härte und Stärke getrimmt. Emotionen haben in diesem Konstrukt keine Chance, das logische Resultat ist dann oft: null Zugang zu sich selbst! Auf dieser Welt laufen also Hunderte Millionen von Männern herum, die gar nicht so genau wissen, wie es ihnen geht, schließlich konnten sie fast noch nie aus diesem wunderbaren Reservoir der eigenen Innenwelt schöpfen. Die Männer – und das wissen die wenigsten – haben unfassbar viel zu gewinnen. Was wir allerdings haben, ist ein riesiges Marketing-Problem.
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Woran liegt der Ursprung des Ganzen?
Schon im Kindesalter fehlen Jungs männliche Rollenvorbilder, die ihnen vorleben, dass Gefühle zum Mann-Sein dazugehören. Wo haben Sie denn das im Kindergarten oder der Grundschule? Und auch in den Elternhäusern gibt es oft keine emotional präsenten Männer, hingegen viele Frauen.
Sie gehen die Frauen an?
Wie kommen Sie denn darauf? Natürlich nicht, aber selbst wenn eine Frau pädagogisch gesehen alles richtig macht, wird ein Junge sich damit eben nicht so richtig identifizieren können. Er wird nur lernen, dass es Frauen halt so machen, Männer hingegen nicht. Im schlimmsten Fall kommt er auf die Idee, dass Frauen alles besser machen als Männer.
Netflix hat laut “taz” mit der britischen Serie “Adolescence” ein Meisterwerk über Radikalisierung und Gewalt gegen Frauen herausgebracht. “Ich denke, das ist etwas, was wir ernst nehmen müssen und uns auseinandersetzen”, mahnt Keir Starmer, der Premierminister von Großbritannien. Er will die Serie in allen Schulen zeigen. Warum passiert bei uns nie etwas?
Wir können uns eine Scheibe von den Engländern abschneiden. Die haben es in wenigen Tagen hinbekommen, das Schulfach “RMHS”, das für Relationship, Mental Health und Sexuality steht – auf Deutsch “Beziehung/Psychische Gesundheit/Sexualität” – auszuweiten. Ab dem nächsten Schuljahr steht “Anti-Misogynie” auf dem Lehrplan. Ich würde es anders nennen, aber so etwas fordere ich, seit ich mich mit “toxischer Männlichkeit” beschäftige. Daher, lieber Herr Merz: Bitte lassen Sie uns in Deutschland auch etwas unternehmen, lassen Sie uns Kinder und Jugendliche bei diesen Themen unterstützen, bevor das Schreckliche, das in “Adolescence” passiert, auch hier zum Alltag wird.
“Männlichkeit” ist eine soziale Konstruktion
In “Adolescence” passiert Schreckliches. Die Serie bringt zum Vorschein, wie verunsichert vor allem Jungen sind …
…und vor allem auch, wie verunsichert beziehungsweise ahnungslos wir Erwachsenen und Eltern sind bezüglich dieses ganzen toxischen Männer-Influencer- und Incel- und PickUpArtists-Mist, dem Elf- oder 13-jährige Jungen so alltäglich ausgesetzt sind.
Was ist die Lösung? Berater für den toxischen Nachwuchs?
Erstens: Nicht der Nachwuchs ist toxisch, sondern der ganze Quatsch, dem die Jungen ausgesetzt sind. Und zweitens: Gesprächspartner. Die auch mal deutlich die absolute Frauen-, ach: Menschfeindlichkeit eines Tate oder Fuentes aufzeigen.
Mehr als 115 Millionen Mal wurde “Adolescence” nun abgerufen. Es geht um Mobbing, toxische Männlichkeit, hormonelle Panik und nicht zuletzt um die sozialen Medien als “Brutstätten der Barbarei”, schreibt ein Nachrichtenmagazin. Sind Männer Bastarde?
Sie machen auch das, womit ich ständig konfrontiert werde: Sie verwechseln “Männer” und “Männlichkeit”. “Männlichkeit” ist eine soziale Konstruktion, quasi ein Anforderungskatalog, dem fast die Hälfte der Menschheit unterworfen wird. Dieser Anforderungskatalog ist toxisch, im wahrsten Sinne des Wortes, nicht die Männer an sich. Wenngleich einige Exemplare diesen Katalog derart verinnerlicht haben, dass man auch ihre daraus resultierenden Handlungen als “toxisch” bezeichnen könnte, aber das ist ein anderes Thema … Also nein: Nicht die Männer sind Bastarde, aber die vorherrschende Männlichkeitsnorm ist ein Bastard … und was für einer!
Wie bekommen wir das Breitbeinige aus den Männern heraus?
Das Perfide ist ja, dass der heutige Mann einerseits stark und mächtig sein soll. Gleichzeitig soll er die neuen Anforderungen – einfühlsam, empathisch, sorgsam und nachhaltig – erfüllen. Das funktioniert so nicht. Das würde nur gehen, wenn die neuen Anforderungen die alten ablösen würden. Das Gegenteil ist der Fall: Sie kommen – wie bei einem Schneefall in den Bergen – einfach obendrauf. Also Neuschnee auf Altschnee. Was passiert, wenn ein bisschen Wind aufkommt, wissen wir: Es entsteht eine Lawine. Auf den Punkt gebracht: Wir verlangen von Männern, dass sie Unvereinbares vereinbaren. Die Folge ist, dass sie total verwirrt sind, völlig konfus. Und dann machen die Männer eben das, was sie am besten können: Sie verdrängen!
“Schon das Eingeständnis, nicht allein weiterzuwissen, ist für einen Mann ein großer Schritt”, sagen Sie. Ihr Credo: “Männer brauchen liebevolle Konfrontationen.”
Sie dürfen sich das aber nicht wie in so einem Hollywood-Film vorstellen. Ich sage nicht den einen Satz – und peng – sieht der Mann Licht am Ende des Tunnels. Den einen Katharsis-Satz gibt es in den seltensten Fällen.
Wie wird sich das Männerbild in den nächsten Jahren noch verändern?
Männer werden sich stärker emanzipieren. Das heißt, sie werden davon wegkommen, sich von Bildern leiten zu lassen, die von außen an sie herangetragen werden. Ganz egal, ob das nun traditionelle oder moderne Männlichkeitsbilder sind.
Das heißt konkret?
Na ja, im besten Fall entsteht vielleicht stärker so eine positive Scheißegal-Haltung, nach dem Motto: Diese ganzen verschiedenen Anforderungen, wie ein Mann angeblich zu sein hat, stark und gleichzeitig empathisch, forsch und respektvoll, der eierlegende Wollmilch-Eber … das werde ich sowieso alles nicht erfüllen können. Also versuche ich es vielleicht gar nicht erst, sondern schaue einfach, wie ich eigentlich tatsächlich bin – ob das der Gesellschaft, den anderen Männern, den Frauen nun passt oder nicht! Das ist eigentlich das, was ich vor allem den Jungen vermitteln möchte: Vergiss diese ganzen Männlichkeitsanforderungen! Erfinde deine eigene, ganz persönliche Männlichkeit.