Nationalratswahl im Nachbarstaat: Ist Österreich das Land der “Nazi-Avantgarde”? | ABC-Z
In seinem Buch beschäftigt sich der Autor und Dramaturg Thomas Köck mit den in einer Woche stattfindenden Wahlen und dem Hang der Alpenrepublik zum rechtsradikalen Lager. Er diagnostiziert seinem Heimatland einen “Herbertkomplex”.
Am 29. September wählen die Österreicher einen neuen Nationalrat, sprich ein neues Parlament. Und obwohl das Land mit seinen neun Millionen Einwohnern kein Schwergewicht ist, wartet man auch im Ausland gespannt auf das Ergebnis. Wird die rechtsradikale Freiheitliche Partei Österreich (FPÖ) wirklich als stärkste Partei bestätigt? Wenn ja, wie wird die nächste Regierungskoalition aussehen? Und könnte FPÖ-Chef Herbert Kickl Bundeskanzler werden?
Schenkt man den Umfragen Glauben, lautet die Antwort auf die erste Frage “Ja”. 27 Prozent der Befragten wollen FPÖ wählen. Apropos, in Österreich darf man schon mit 16 Jahren seine Stimme abgeben.
Aber wie kann es sein, dass in der Alpenrepublik seit Jahrzehnten die rechtsnationalistische Partei wächst? Gemessen am Pro-Kopf-Einkommen gehört Österreich zu den reichsten Ländern der Welt, verfügt über ein passables Sozialsystem und hatte bis vor der Pandemie auch eine gesunde Wirtschaft, die jetzt aber stark kriselt. Die FPÖ ist reich an Skandalgeschichten. Die Affäre um den damaligen Parteivorsitzenden Heinz-Christian Strache führte vor fünf Jahren zum Rücktritt des Vizekanzlers aus allen Ämtern. Doch immer wieder steht die Partei auf wie ein Phönix aus der Asche und das jedes Mal stärker als zuvor.
Haider war nur der Anfang
Die eine eindeutige Erklärung für den FPÖ-Zuspruch gibt es nicht. Zumal rechtsradikale und nationalpopulistische Parteien gerade in ganz Europa Hochkonjunktur feiern. Österreich ist Vorreiter dieser Entwicklung, angetrieben vom 2008 verstorbenen FPÖ-Vorsitzenden Jörg Haider.
In seinem Buch “Chronik der laufenden Entgleisungen” versucht sich der österreichische, mittlerweile in Berlin lebende Autor und Dramaturg Thomas Köck in Überlegungsansätzen zum FPÖ-Erfolg. Die “Chronik” ist ein Versuch, den Nationalratswahlkampf zu beobachten und mit Anmerkungen zu begleiten. Sie beginnt mit einem Eintrag Anfang Juni 2023 und endet ein Jahr später.
Österreich werde vom “Herbertkomplex” beherrscht, schreibt Köck, von einem “Rechtsruck, der kein Ruck mehr ist, sondern eine mittlerweile jahrzehntelange Verschiebung sämtlicher demokratischer Grundprinzipien”. Österreich war eines der ersten Länder in Europa, in dem ein Politiker in aller Öffentlichkeit Tabubruch beging. So befand Haider irgendwann Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre: “Im Dritten Reich haben sie ordentliche Beschäftigungspolitik gemacht.” Und: “Das wissen Sie so gut wie ich, dass die österreichische Nation eine Missgeburt gewesen ist, eine ideologische Missgeburt.” Über den damaligen Vorsitzenden der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien, Ariel Muzicant sagte Haider: “Ich verstehe überhaupt nicht, wie jemand, der so viel Dreck am Stecken hat, Ariel heißen kann.”
“Volkskanzler” wie Adolf Hitler
Ob Haider die ersten zwei Sätze selbst erfunden hatte, ist nicht dokumentiert. Der Ariel-Satz stammt stattdessen mit Sicherheit aus Kickls Feder. Der agierte bis zu Straches Abgang lieber hinter den Kulissen, feilte an Texten und Kampfparolen. Jetzt hat Kickl das Ruder in der Hand und scheut sich nicht, sich den Österreichern als “Volkskanzler” anzubieten. Der Begriff Volkskanzler stand aber einst “für einen faschistischen deutschen Führer”, schreibt Köck. So wurde Hitler bezeichnet. Aber was soll’s, ist ja auch nur eine von unzähligen Entgleisungen, die heutzutage in Österreich mit einem Schulterzucken hingenommen werden.
Für Köck war Österreich schon immer “Nazi-Avantgarde. Und gekränkte Männer waren schon immer die größte Gefahr für alle Beteiligten”. Köck schreibt: “Dieser beleidigte Wunsch, doch eigentlich etwas Größerem angehören zu müssen, (…) dieser nie aufgearbeitete Wunsch, die Kränkung wegzuschieben, abzuschieben (…) ist dann doch alles ein einziger großer oder besser gesagt kleiner Verdrängungskomplex, ein Entgleisungskomplex, befeuert von einem ewigen Expansionswunsch.”
Für jüngere Generationen hört sich das vielleicht vertrackt an. Es geht dabei um das Österreich, das nach dem 1. Weltkrieg von einem Europa lange Zeit dominierenden Kaiserreich zu einem Rumpfstaat gestutzt wurde. Viele Österreicher wünschten sich deswegen in der Folge den Anschluss zu einem Großdeutschland.
Frust der Zu-kurz-Gekommenen
Aber was hat der damalige Minderwertigkeitskomplex mit dem heutigen “Herbertkomplex” zu tun? Es geht darum, mutmaßt Köck, dass sich ein Teil der Bevölkerung übergangen und nicht angemessen wertgeschätzt fühlt. Darum, dass Österreich noch immer eine rigide Klassengesellschaft sei, wo jene, die nicht aus betuchten Verhältnissen kommen, nur schwer die soziale Leiter hochsteigen. Frust, Wut, Neid und Angst seien eine Folge davon.
Anders als in Deutschland, wo dieser Unmut in der Vergangenheit auch auf Parteien am linken Rand einzahlte, profitiert in Österreich seit eh und je der rechtsradikale Rand. Blitzableiter für Frust, Wut, Neid und Angst sind Migranten.
Europa muss sich wieder entscheiden
Köcks radikal negativer Beschreibung der Alpenrepublik kann man entgegensetzen, dass laut Umfragen 70 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme nicht der FPÖ geben. Auch erscheint es unwahrscheinlich, dass Kickl mit dem Amt des Bundeskanzlers beauftragt werden könnte. Anders sieht es bei der Bildung einer Regierungskoalition aus. Eine Koalition ÖVP und FPÖ hat es Anfang der 2000er-Jahre in Wien erstmals und dann unter Sebastian Kurz erneut gegeben. Das wäre nach den jetzigen Prognosen erneut möglich.
Die Österreichische Volkspartei (ÖVP), geführt vom amtierenden Bundeskanzler Karl Nehammer, liegt bei 25 Prozent. Die Grünen, die mit der ÖVP gerade regieren, rangieren bei 8 Prozent, die Sozialdemokraten bei 21 Prozent. Hinzukommen die liberalen Neos, die 11 Prozent der Stimmen bekommen könnten. Auch die 2015 vom Punkrocker und Arzt Dominik Wlazny – Künstlername Marco Pogo – gegründete Bierpartei Österreich (BPÖ) könnte die Mindesthürde von 4 Prozent überspringen und in den Nationalrat einziehen.
Doch ungeachtet dessen, ob die FPÖ in die Regierung einzieht oder nicht, empfiehlt sich die Beschäftigung mit der von Köck gestellten Frage, wie “der Nationalismus als Republikanismus von einer Verheißung zu einer Geißel wurde”. Es habe sich “in liberalen Gesellschaften jetzt ein neuer, neoliberal autoritärer Geist breitgemacht und die Idee von Freiheit dermaßen ad absurdum geführt, dass sich Europa wieder mal entscheiden muss (…)”. Köck warnt vor düsteren Entwicklungen. Die “Chronik der Entgleisung” wird am 22. September im Schauspielhaus Graz uraufgeführt und feiert am 26. September im Schauspielhaus Wien Premiere.