Nahostkonflikt: Es gibt nur einen Libanon | ABC-Z
Die Politikwissenschaftlerin Bente Scheller hat sieben
Jahre in Beirut gelebt, wo sie das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung leitete.
Seit 2019 ist sie am Hauptsitz der Stiftung in Berlin für Nahost und
Nordafrika verantwortlich.
Klischees überlagern das Bild vom Libanon: Die einen trauern
einem so nie dagewesenen “Paris des Nahen Ostens” nach, für andere ist es ein
Hort terroristischer Milizen. Wer sich mit den komplexen Realitäten befasst,
merkt vor allen eines: Es ist auch ein einzigartiger Ort in der Region, dessen
Freiräume für kritisches Denken und künstlerischen Ausdruck mehr denn je
gebraucht würden. All das steht derzeit allerdings auf dem Spiel.
Eine fünfstöckige Torte der Desaster, jede Schicht überzogen
mit pastellfarbenem Zuckerguss, so zeichnet der libanesische Illustrator
Bernard Hage die vergangenen fünf Jahre des libanesischen Niedergangs in einem
seiner jüngsten Cartoons. Vom untersten Tortenboden – der Finanzkrise – geht es
über Covid zur Hafenexplosion, gefolgt von der politischen Krise und einer
“Massendepression” – der allgemeinen Hoffnungslosigkeit, weil sich für keine
der Notlagen eine Lösung auch nur abzeichnet.
Israels Krieg gegen die Hisbollah nun trifft ein Land, das
schlechter denn je darauf vorbereitet ist, die humanitären Folgen des Krieges
aufzufangen.
Hage hat ihn in seinem Bild als die sprichwörtliche Kirsche auf dem
Kuchen dekoriert, das letzte i-Tüpfelchen. Die verheerenden Luftangriffe der
vergangenen zwei Wochen haben nahezu 2000 Menschen getötet und mehr als eine
Million Menschen innerhalb des eigenen Landes vertrieben.
Der Libanon ist von der Fläche gesehen gerade einmal halb so
groß wie Hessen, aber mit Krisen der Superlative konfrontiert. Die Wirtschaft
befindet sich in einer Rezession,
die weltweit als eine der schlimmsten seit 1850 gilt. Eine höhere
Inflationsrate plagt derzeit nur Simbabwe und Venezuela. Die Währung, das
libanesische Pfund, hat innerhalb weniger Jahre über 95 Prozent seines Wertes
verloren.
Es ist ein einzigartiger Ort der Ambivalenz, dessen
politische Pleiten denselben Grund haben wie die außerordentlichen Freiräume
für Kunst und Gedanken in der ganzen Region. All das steht allerdings auf der
Kippe. Es ist wichtig, das Land zu begreifen in diesem Schicksalsmoment; es
lohnt sich zurückzugehen in seiner Geschichte und den Libanon in seinen
Wesenszügen zu beschreiben. Es geht nicht um reine Desaster wie in der Torte
des Zeichners dargestellt, sondern eher um Wesensmerkmale eines Landes, das mit Krisen und
Kriegen umgehen musste, erstaunlich improvisierte, aber nie Halt gefunden hat. Eine
Annäherung in sieben Charakterzügen.
Schwache Staatlichkeit
Die eigene schwache Staatlichkeit wurde dem Libanon immer
wieder zum Verhängnis. Sie ermöglichte, dass die PLO und andere
palästinensische Gruppen in den 1970er Jahren von hier aus Israel angreifen konnten.
Nach deren Vertreibung etablierte sich die Hisbollah als Staat im Staat – zwar
eine libanesische Miliz und Partei, aber Irans Führung in Treue ergeben. Die
Feindschaft der Palästinenser wie der Hisbollah gegenüber Israel führte dazu,
dass sowohl Israel als auch Syrien während des Bürgerkriegs im Libanon einmarschierten
und ihre jeweiligen Interessensphären durch jahrzehntelange Besatzung und von
ihnen finanzierte Milizen zementierten. Durch sie wurde Libanon zum Terrain,
auf dem internationale und regionale Konflikte stellvertretend ausgetragen
wurden.
Das komplexe politische System, mit dem nach dem Krieg der
Proporz zwischen den einzelnen Konfessionen gewährleistet werden sollte, hat
Tücken. Zwar verhindert es die Alleinherrschaft einer Partei. Gleichzeitig aber
können sich dadurch die verschiedenen politischen Akteure gegenseitig
blockieren. So kommt es, dass auch zwei Jahre nach dem Ende seiner Amtszeit
kein Nachfolger für Präsident Michel Aoun im Amt ist. Libanesinnen und
Libanesen, die dem System kritisch gegenüberstehen, scherzen gelegentlich, statt
eines Diktators hätten sie 18 – für jede konfessionelle Gruppe einen.
Dass die Hisbollah nach dem Ende des Bürgerkriegs 1990 die
einzige Miliz war, die ihre Waffen nicht abgegeben hat, machte sie
innenpolitisch zu einem starken und gefürchteten Akteur. Niemand konnte sie
damals zwingen, der Iran wollte es nicht. Aber um ihre Rolle zu erfassen, ist es
wichtig zu verstehen, dass sie nicht bloß eine Miliz ist: Als bewaffnete Gruppe
schüchtert sie ein und begeht politische Morde. Das tödliche Attentat auf den
ehemaligen libanesischen Premierminister Rafik Hairi 2005 und eine Serie von
Anschlägen auf Politiker, Journalistinnen und Journalisten, missliebige
Ermittler, und zuletzt 2021 der Mord an ihrem schärfsten Kritiker, Lokman Slim – all das geht auf ihr Konto. Gleichzeitig ist sie als politische Partei in
Parlament und Regierung vertreten; sie ist Teil der Wirtschaft und der
Schattenwirtschaft mit weitverzweigten internationalen Netzwerken und bietet
überdies soziale Leistungen wie Krankenversicherungen an, die für ihre
Gefolgschaft umso wichtiger geworden sind, je näher der Staat einem
Totalausfall kommt.
In Ermangelung staatlicher Ressourcen und internationaler Unterstützung
ist im Wesentlichen sie es, die momentan Binnenflüchtlinge aus ihrer Klientel unterstützt
– und damit an sich bindet.
Ungeahnte Freiräume
Dieses sich gegenseitige In-Schach-Halten der einzelnen
Fraktionen im Libanon hat einen geeinten Widerstand immer wieder zerfallen
lassen, bevor eine Protestbewegung die korrupte Elite hätten stürzen können.
Sie hat den Staat zugrunde gehen lassen. Gleichzeitig aber haben dieses ewiges Patt und die mangelnde Durchsetzungskraft staatlicher Institutionen verhindert,
dass eine Diktatur entstehen konnte. Die positive Kehrseite des Scheiterns ist
die Freiheit, die im Libanon immer noch größer ist als woanders in der
arabischen Welt. Auch wenn es ungeschriebene rote Linien gibt und selbst im
Libanon die Räume für progressives, kritisches und queeres Engagement in den
letzten Jahren enger geworden sind, ist es immer noch ein Land beachtlicher
Presse- und Meinungsfreiheit, in dem die punktuellen Versuche staatlicher
Einschüchterung beherzt zurückgewiesen werden.
Im
vergangenen Jahr wurde die Satirikerin Shaden Fakih wegen eines Videos vors
Militärgericht zitiert, weil sie während des Covid-Lockdowns aufgezeichnet
hatte, wie sie die libanesische Armee um die Lieferung von Monatsbinden bat.
“Als ich die Vorladung erhielt, habe ich als erstes ein Video gepostet: “Jungs,
denkt ihr, ich habe Angst? Nein, Habibi, ihr flößt mir keine Furcht ein.” Sie
wurde wegen “Demütigung und Rufschädigung der libanesischen Armee” zu einer
Geldstrafe verurteilt.
Der Comedian
Nour Hajjar wurde letztes Jahr wegen eines ähnlichen Sachverhalts verhaftet. Er
hatte gespottet, wenn er Essen bestelle und dem Pizzaboten die Tür öffne,
salutiere er erst einmal. Damit spielte er darauf an, dass Armeeangehörige Zweitjobs
annehmen, weil sie von ihrem Sold kaum mehr ihre Familie ernähren können. Nach
seiner Verhaftung sammelten sich Aktivistinnen und Aktivisten, um dagegen zu
protestieren. Nour Hajjar kam frei. “Satire hat
eine wichtige soziale Rolle, und unsere Comedians sollten weitestgehenden
rechtlichen Schutz genießen, insbesondere, wenn sie öffentliche und religiöse
Autoritären oder Handlungen aufs Korn nehmen, in einem Land, das sich auch
sonst durch Straflosigkeit auszeichnet”, sagte damals Ghida Frangieh, Anwältin der
Nichtregierungsorganisation Legal Agenda.
Die
Organisation ist Teil der überaus lebendigen, streitbaren Zivilgesellschaft,
die den politischen und gesellschaftlichen Diskurs im Libanon prägt. In eine
ähnliche Richtung argumentiert Monika Borgmann, Dokumentarfilmerin, die der Organisation Umam und dem Mena Prison Forum vorsteht: Kunst sei eine Form des
Widerstands im Libanon, und selbst wenn man um den Raum und die Freiheit
kämpfen müsse – auch das mache den Libanon aus.
Leben ohne den Staat
In der libanesischen Gesellschaft sind die Erwartungen an
den Staat gering, die Menschen haben sich mit seiner weitgehenden Abwesenheit
abgefunden. Umso größer ist das Talent, für jedes Problem eine Lösung zu
finden. Kaum war 2019 die Finanzkrise über den Libanon hereingebrochen, blühte
das Geschäft mit Kryptowährungen; eine Goldgrube für diejenigen, die Orte
ausfindig machten, an denen sie genügend Strom für das energieintensive
Schürfen nach Kryptowährungen bekamen, und halbe Dörfer in Serverfarmen
verwandelten.
Auch jede Lücke in der staatlichen Infrastruktur wird stets
durch jemanden gefüllt. Als es kein Benzin mehr gab, kam sofort eine App auf
den Markt, mit der man “Schlangensteher” buchen konnte, die für einen stunden-,
tagelang in den endlosen Autoschlangen vor den Tankstellen anstanden. Die Krise
war nicht behoben, aber ein bisschen umgangen. Alles ist erhältlich – vorausgesetzt,
man hat Geld. Das ist hilfreich, birgt allerdings auch das Risiko, dass das, was
als Behelfslösung beginnt, ein Eigenleben entwickelt und einer dauerhaften
Lösung im Weg steht.