Politik

Nahost: “Ein Waffenstillstand wäre eine Rettungsleine für die Hisbollah” | ABC-Z

Hanin Ghaddar hat lange Zeit als Journalistin in Beirut gearbeitet und beobachtet heute für einen US-Thinktank die Entwicklung der schiitischen Hisbollah und den Einfluss des Iran im Nahen Osten. 

ZEIT
ONLINE:
Frau Ghaddar, die
USA und Frankreich haben mit Unterstützung weiterer Staaten, darunter
Deutschland und wichtige arabische Länder, einen Vorschlag für eine dreiwöchige
Waffenruhe unterbreitet. Wie beurteilen Sie die Chance für einen Erfolg?

Hanin
Ghaddar:

Es sieht zumindest nicht so aus, als würde es schon in den nächsten Tagen dazu
kommen. Die libanesische Regierung hat zwar positiv reagiert und angesichts der
schweren Verluste in den vergangenen Tagen könnte sich eigentlich auch die
Hisbollah über eine Waffenruhe freuen. Sie haben sich aber bisher nicht geäußert.
Und eine Zustimmung zu einer Waffenruhe sagt noch nichts darüber aus, ob
die Miliz auch bereit ist, das Grenzgebiet zu Israel zu räumen und sich auf
eine Linie nördlich des Litani-Flusses zurückzuziehen. Also de facto die
UN-Resolution 1701 zu befolgen, mit der der Krieg 2006 beendet wurde. Das wird aber entscheidend sein.

Die Hisbollah-Führung weiß ganz offenkundig nicht, wie sie mit der Situation umgehen soll.

Hanin Ghaddar

ZEIT
ONLINE:
Israel
soll nach US-Angaben in Vorgesprächen zu einer Einstellung der Angriffe bereit
gewesen sein. Am Donnerstag kündigte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu aber an,
den Militäreinsatz mit aller Macht fortzuführen. Wie interpretieren Sie das?

Ghaddar:
Mit
dem Vorschlag für eine Waffenruhe werfen die USA und die anderen Staaten der
Hisbollah so etwas wie eine Rettungsleine zu. Sie bieten der Miliz ein
Feigenblatt an, um eine totale Demütigung durch eine Niederlage gegen Israel
abzuwenden. Der Deal geht so: Die Hisbollah rückt von ihrem Versprechen an die Hamas im Gazastreifen ab, die Angriffe gegen Israel so lange fortzusetzen, bis
Israel den Krieg in Gaza beendet. Im Gegenzug könnte die Miliz die totale
Niederlage gegen Israel auf dem Schlachtfeld vermeiden. 

ZEIT
ONLINE:
Warum macht Israel dann weiter?

Ghaddar:
Israel scheint
nicht zu glauben, dass es angesichts seiner Überlegenheit eine Waffenruhe nötig
hat. Die Israelis setzen darauf, ihr Ziel, die Hisbollah aus der Grenzregion zu
vertreiben, mit ihrem militärischen Vorgehen durchsetzen zu können. Kurz
gesagt: Amerika und die Europäer wollen einen Waffenstillstand als
Zwischenschritt zu einem verhandelten Abkommen, Israel will die Hisbollah unter
Feuer zu einem Abkommen zwingen.

ZEIT
ONLINE:
Wir
erleben die heftigsten Kämpfe zwischen beiden Seiten seit
vielen Jahren. Zugleich ist die Reaktion der Hisbollah auf die Tötung eines großen
Teils ihrer Führung und die verheerenden Pager-Explosionen nicht so stark ausgefallen, wie von vielen
erwartet. Kann die Hisbollah nicht mehr – oder wollen sie zu diesem Zeitpunkt nicht,
dass der Konflikt vollends außer Kontrolle gerät?

Ghaddar:
Es
ist definitiv beides. Israel scheint auf allen Ebenen die Oberhand gewonnen zu
haben: militärisch, technologisch und geheimdienstlich. Israel hat damit die
Reaktionsfähigkeit der Hisbollah stark eingeschränkt, insbesondere durch die
Unterbrechung ihres Kommunikationssystems. Wie kann die Hisbollah eine wirklich
massive Reaktion, wie viele sie erwartet haben, wirklich effizient umsetzen,
wenn es kein richtiges Kommunikationssystem gibt, wenn die Leute nicht
miteinander reden können?

ZEIT
ONLINE:
Wie
sehr ist die Hisbollah geschwächt?

Ghaddar:
Enorm, die Hisbollah steht unter Schock. Ihre Leute versuchen immer noch zu verstehen, was mit
ihnen geschieht, sie sind immer noch desorientiert und schockiert darüber, wie
sehr sie von Israel infiltriert sind, wie viele Spione es in ihren Reihen gibt
und wie schwach sie im Vergleich zur militärischen Stärke Israels sind. Mit
einer Aktion wie der Zerstörung ihrer wichtigsten Kommunikationsmöglichkeiten,
den Pagern, hat niemand gerechnet. Nicht einmal Hollywood würde ein solches
Drehbuch akzeptieren. Die Hisbollah-Führung
weiß ganz offenkundig nicht, wie sie mit der Situation umgehen soll, und sie hat
Angst. Hisbollah-Kämpfer verstecken sich und kommen nicht einmal heraus, um den
schiitischen Bürgern zu helfen, die vor dem Krieg fliehen. Sie lassen sie
einfach allein.

ZEIT
ONLINE:
Wurde
die Stärke der Hisbollah überschätzt?

Ghaddar:
Zumindest
wurde sie in einer beispiellosen Weise bloßgestellt und scheint Israel völlig
ausgeliefert zu sein. Aber wir sollten uns auch vor voreiligen Schlüssen hüten.
Denn einerseits gehen Schätzungen davon aus, dass die Hisbollah zwischen 40 und 50
Prozent ihrer militärischen Kapazitäten verloren hat und sie deshalb nicht viel härter zurückschlagen kann. Gleichzeitig hat sie aber immer noch ihre wichtigsten Waffen, die
nicht wirklich zerstört wurden. Sie kann
also nicht voll reagieren, weil ihre Kapazitäten drastisch verringert wurden.
Aber sie will vorerst auch nicht reagieren, weil sie ihr wichtigstes Faustpfand – die präzisionsgesteuerten Langstreckenraketen – nicht
verschwenden will. Die könnte die Hisbollah einsetzen, tut es aber bislang nicht.

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