Nachruf auf Christine Kensche: Eine Beobachterin von Liebe und Abgründen | ABC-Z
Wir trauern um unsere Reporterin Christine Kensche. Sie war eine Ausnahme-Journalistin, die überall Geschichten fand und so erzählte, dass sie Herz und Kopf erreichten. Seit 2020 war sie WELT-Korrespondentin in Israel. Über ein Leben zwischen harten Recherchen und tiefen Freundschaften.
Hund oder Katze, die meisten Menschen entscheiden sich für eines der beiden Haustiere. Sie aber wollte mit beiden zusammenwohnen. Mit Petel, der Hündin, die fremde Besucher erst mal anbellt. Mit Milky und mit Bamba, einer zutraulichen Katze und einer wilden, die jeden Zettel zerfetzt, der auf dem Schreibtisch liegt.
Auch Zuschauer von WELT TV dürften sie mal gesehen haben, nicht selten lief eine der Katzen durchs Bild, wenn sich unsere Israel-Korrespondentin Christine Kensche auf die Dachterrasse ihrer Wohnung in Tel Aviv vor die Kamera stellte und die Entwicklungen im Nahen Osten erklärte.
Hund und Katzen kamen an diesem Ort gut miteinander aus. Wohl vor allem, weil unter ihr Gerechtigkeit herrschendes Prinzip war. Jedes Tier wurde mit gleicher Strenge und Zuwendung behandelt, keines musste sich zurückgesetzt fühlen. Weil sie alle drei von der Straße gerettet hatte, erinnerte das Trio stets auch an ihren Einsatz für die Schwachen. Mit Gegensätzen hatte Christine Kensche nie Probleme. Unfaires Verhalten machte sie wütend.
Im Mittelpunkt ihres Lebens aber standen ihre vielen engen Freunde, das sagte sie oft. Und ihre Neugierde und die Begeisterung, zu lernen. Als Christine Kensche im Jahr 2020 als Korrespondentin nach Israel ging, sprach sie bereits Hebräisch. Privat und beruflich öffnete sie in dem Land viele Türen, die anderen Journalisten verschlossen bleiben.
So war sie nach dem 7. Oktober eine der ersten Reporterinnen im Kibbuz Re‘im, wo sie die unmittelbaren Spuren des Hamas-Massakers erlebte. Seitdem trieb sie das Gefühl an, dass die Weltöffentlichkeit nicht wirklich verstanden hatte, was an diesem Tag Ungeheuerliches geschehen war.
Ihre exklusiven Recherchen zu Finanzströmen der Hamas und ein penibel recherchierter Report über die sexuelle Gewalt der Terroristen wurden von zahlreichen großen internationalen Medien zitiert. Gleichzeitig sorgte sie sich um ihre Freunde im Gaza-Streifen. Sie berichtete über deren Leid unter israelischen Bomben und den Tyrannen der Hamas.
Sie verbrachte Nächte damit, Wege für Finanztransfers ins Kriegsgebiet zu finden, um ihren Informanten eine kleine Aufwandsentschädigung zu überweisen, damit sie sich das Nötigste kaufen konnten. Obwohl sie am nächsten Morgen wieder arbeiten musste. Ihre eigenen Aufgaben stellte sie nicht selten hinten an, um anderen zu helfen.
Im Jahr 2010 hatte Christine Kensche ihr Volontariat bei WELT angetreten. 1982 geboren und in Mettmann in Nordrhein-Westfalen aufgewachsen, hatte sie zu diesem Zeitpunkt bereits in Rom studiert und gearbeitet und dabei fließend Italienisch gelernt. Ihre Mitschüler auf der Axel Springer Akademie gaben ihr den Spitznamen „Commander Kensche“, weil sie viel auf ihre Einschätzungen gaben.
Ihre Artikel fielen schnell auf, sie blieb bei ihrer bescheidenen Art. Ihre Stimme war sanft, ihre Haare fielen auf einer Seite immer über die Augen. Viele Reporter bilden sich ein, besonders hart drauf zu sein, weil sie sich an Orte trauen, die nichts für zarte Gemüter sind. So wirkte Christine Kensche nie, sie hatte keine Scheu, auch mal Unsicherheit zu zeigen und zu zweifeln. An ihr war nichts Grobes, und oft wunderte sie sich einfach über diese Welt. „Schatz, hör mal“, so begann sie gegenüber guten Freunden oft ihre Sätze.
Liebe konnte sie ebenso präzise beobachten wie menschliche Abgründe. Geschichten fand sie überall. Im Jahr 2013 schickte sie die Redaktion nach Amsterdam. Königin Beatrix sollte nach 33 Jahren den Thron an ihren Erstgeborenen, Willem-Alexander übergeben. Millionen Niederländer waren in die Stadt gereist.
Als eine Kollegin fragte, wo zur Hölle sie hier eine Geschichte mit Tragweite finden wolle, antwortete Christine Kensche: „Mach die Augen auf“, und fuhr begeistert fort: „Ein Muttersöhnchen muss seine Rolle auf der Bühne finden zwischen zwei Frauen, die ihn in den Schatten stellen – seine vom Volk innig geliebte Mutter und seine strahlende Ehefrau. Das ist doch so fürchterlich schön lebendig.“
Später verschwand sie in einem Coffee-Shop, um zu erfahren, welche Sorte Gras sich an diesem Königstag besonders häufig verkaufe. Sie kam strahlend wieder heraus, auf dem Kopf trug sie einen Hut in Form eines gigantischen Cannabis-Blattes. „Die wollten mir unbedingt auch Kekse schenken; aus Mitleid, weil wir in Deutschland keine Königin und nicht mal einen kleinen Prinzen haben – ich habe wenigstens den Hut genommen.“
Viele Jahre hatte sie als Reporterin in Deutschland gearbeitet. Als sie zum Berliner Remmo-Clan recherchierte, wollte sie unbedingt mit dem Oberhaupt Issa Rammo persönlich sprechen. Damals, im Jahr 2019, war einer seiner Söhne nach einem Jahr U-Haft freigesprochen worden und erhielt eine Entschädigung vom Staat, es gab viele offene Fragen. Sie besorgte sich seine Nummer und beschrieb den Anruf später so:
In unserem ersten Telefonat will er gleich einen Deal einfädeln. „Schreiben Sie“, fordert das Clan-Oberhaupt, „Issa Rammo wird das Entschädigungsgeld vom Gericht an die Jüdische Gemeinde spenden.“ Ich hatte eigentlich nur einen Termin für ein Gespräch vereinbaren wollen, nun muss ich verhandeln. „Herr Rammo, ich möchte Sie gern persönlich treffen.“ – „Schreiben Sie das, und wenn ich den Text sehe, wir können uns treffen.“ – „Nein, wir treffen uns, und dann schreibe ich das vielleicht.“
Später saß die WELT-Reporterin tatsächlich bei Remmo auf der Terrasse seiner Villa und konfrontierte ihn mit Fragen. Sie hatte Zimtschnecken mitgebracht und ihre Lieblingsfotografin. Die musste alle 30 Minuten eine SMS an die Redaktion schicken, ob alles in Ordnung war. Der Clanchef servierte den WELT-Reporterinnen ohne Unterlass Kaffee und Süßigkeiten, präsentierte Haus und Garten.
Das beeindruckte Christine Kensche wenig. Sie schrieb einen ebenso schonungslosen wie gerichtsfesten Bericht und erhielt nach dem Erscheinen erst anonyme Drohanrufe, dann meldete sich Remmo selbst. Er war sehr unglücklich über den Text. „Haben Sie nicht meinen Kaffee getrunken? Haben Sie nicht mein Essen im Bauch?“, fragte er. Auch das veröffentlichte sie und zog ein nüchternes Fazit: „Wir waren auf verschiedenen Argumentationsebenen, die sich nicht vereinbaren ließen.“
Ihre Recherchen zu den Clans setzte Christine Kensche fort, mit bemerkenswerter Zähigkeit. Sie stieß auf einen jungen Mann, der sich aus dem Clan-Milieu gelöst hatte. Aus ihrer ersten Begegnung mit Khalil O., so sein Pseudonym, wurde ein langer Austausch, ihr Buch „Auf der Straße herrscht unser Gesetz“, zum Bestseller. Der Aussteiger legte darin Dinge offen, die streng geheim waren. Eine Sensation.
Christine Kensche hatte enorme Ansprüche an sich selbst. Auch unter großem Zeitdruck wollte sie stets Informationen aus erster Hand recherchieren. So schlug sie ein Stück über Israelis vor, die mit besonderem Glück, Mut oder Erfindungsreichtum das Massaker vom 7. Oktober überlebt hatten. Unter ihnen war eine Großmutter, die die Mörder der Hamas mit selbst gebackenen Keksen hingehalten hatte.
Einige Tage, nachdem der Artikel vereinbart worden war, rief sie an und entschuldigte sich. Sie wolle nur vorwarnen, dass sie es nicht schaffen würde, persönlich mit allen Protagonisten zu sprechen, über die sie schreiben wollte. Wir in Berlin waren etwas verblüfft. Sie hatte seit dem Massaker kaum eine stille Minute gehabt. Wir hatten vermutet, dass sie die Geschichten aus israelischen Medien zitieren würde.
War sie von einer Idee nicht überzeugt, brauchte man sehr gute Argumente. Hatte sie sich etwas in den Kopf gesetzt, war sie davon kaum abzubringen. Ihre Kollegen durften sich am Ende über hervorragende Arbeit freuen. Gern beobachtete sie einfach, was passiert, wenn unterschiedliche Menschen aufeinandertreffen.
Wie in ihrer Geschichte über Waldemar und Ali. Zwei Väter, einer aus Polen, einer aus Tunesien, deren Sohn und Tochter ihre Hochzeit planen. Sie sprechen keine gemeinsame Sprache, aber Waldemar nimmt Ali zum Kennenlernen mit auf eine Motorrad-Tour durch Polen. Diese „Reise ohne Worte“ wurde beim Hansel-Mieth-Preis ausgezeichnet. Am letzten Abend sitzen sie zusammen bei Verwandten von Waldemar und trinken. Nach dem dritten Wodka, so schreibt die mitreisende Reporterin, reden alle durcheinander. Polnisch, Deutsch, Französisch und Arabisch, keiner habe irgendetwas kapiert, aber sie hätten sich gut unterhalten.
Über die folgende Nacht schrieb sie: „Ich wurde auf einer Ausziehcouch in der Kammer der schnarchenden Hausherrin untergebracht. Durch das Fenster blickte ich in eine sternenklare Nacht und wunderte mich, wie einfach es manchmal ist, sich über Länder- und Generationengrenzen hinweg zu verstehen.“
Für ihren letzten großen Text begleitete Christine Kensche Männer und Frauen einer Schulklasse aus dem Kibbuz Beeri. Sie hatten gerade ihr 20. Abschluss-Jubiläum geplant, als am 7. Oktober vier von ihnen in den Gazastreifen verschleppt wurden. Sie beschrieb in „Die Klasse vom 7. Oktober“, der als Titelthema in der WELT AM SONNTAG erschien, ihren verzweifelten Kampf für die Freilassung der Geiseln. Der andauernde Konflikt, die fehlende Hoffnung auf eine Lösung, das machte ihr sehr zu schaffen. Ihr Herz und ihr Mitgefühl waren zu groß, um Krieg und Leid einseitig oder nur politisch zu betrachten.
Natürlich baute sie trotzdem einen Witz ein in ihren Text. Sie schrieb: „Keine Atempause, Geschichte wird gemacht. Es geht voran. Zumindest fühlt es sich einen Abend lang so an.“ Damit zitierte sie den sarkastisch-dystopischen Song „Ein Jahr (Es geht voran)“ von der Rockband Fehlfarben. Der geht so weiter: „Graue B-Film-Helden regieren bald die Welt. Das geht voran!“ Dass es niemandem beim Redigieren aufgefallen war, freute sie später diebisch. Das war genau ihr Humor.
Christine Kensche ist viel zu früh von uns gegangen. Viele Kollegen werden noch oft in Gedanken ihren Rat suchen. Hunde und Katzen verbinden, das können nur wenige.