Nach Eklat mit Trump: „Die Zeit der Worte ist vorbei“ – Jetzt muss Europa sich etwas einfallen lassen | ABC-Z

Nach dem Eklat im Weißen Haus erhebt sich eine Welle des Protests und der Solidarität in Europa: Spitzenpolitiker verschiedener EU-Länder versichern Kiew ihre Unterstützung. Doch hinter den Bekundungen versteckt sich eine große Sorge. In Moskau reibt man sich bereits die Hände.
Um 19.41 Uhr deutscher Zeit verlässt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj das Weiße Haus. Keine Pressekonferenz mit US-Präsident Donald Trump, kein Rohstoff-Deal. Was sich an diesem Abend in Washington abgespielt hat, schickt Schockwellen über Europa. Vor laufenden Kameras hatten Trump und sein Vizepräsident J.D. Vance den Ukrainer scharf kritisiert und ihm vorgeworfen, „mit dem dritten Weltkrieg“ zu spielen. Später schrieb Trump in seinem sozialen Netzwerk Truth Social, Selenskyj sei nicht bereit für einen Frieden. Er könne zurückkommen, wenn er es sei.
Das politische Europa reagierte entsetzt bis fassungslos. Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas stellte die Führungsrolle der USA in der westlichen Welt infrage. „Heute ist klar geworden, dass die freie Welt einen neuen Anführer braucht“, schrieb sie auf der Online-Plattform X. „Es liegt an uns Europäern, diese Herausforderung anzunehmen.“
Wochen der diplomatischen Vorbereitung schienen sich innerhalb weniger Minuten in Luft aufgelöst zu haben. Sowohl Frankreichs Präsident Emmanuel Macron als auch der britische Premier Keir Starmer hatten zuletzt persönlich bei Trump für die Ukraine vorgesprochen.
Ihnen war bewusst, wie viel in diesen Tagen auf dem Spiel steht: für Kiew, aber auch für Europa. Beim Schlagabtausch mit Selenskyj hatte Trump die große Angst der Europäer in Worte gefasst: „Sie werden entweder einen Deal machen oder wir sind raus“, sagte er an den Ukrainer gewandt – und meinte damit eine Einigung mit Russlands Machthaber Wladimir Putin.
Den Europäern ist klar: Ziehen die USA sich aus der westlichen Ukraine-Allianz zurück, hat der Kontinent ein riesiges Problem. Die USA sind nicht nur der wichtigste militärische Unterstützer des angegriffenen Landes. Insbesondere an der Nato-Ostflanke ist zugleich auch die Sorge groß, dass die Abschreckung gegenüber Russland nachlassen könnte.
Auf die Fassungslosigkeit folgte eine Welle der Solidarität in ganz Europa. Polens Ministerpräsident Donald Tusk schrieb auf X: „Liebe ukrainische Freunde, ihr seid nicht allein.“ Der Tweet wurde in kurzer Zeit tausendfach geteilt. „Sie sind nie allein“, schrieben auch EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und Ratspräsident António Costa an Selenskyj gerichtet. „Seien Sie stark, seien Sie mutig, seien Sie furchtlos“, ergänzten die EU-Spitzen. „Wir werden weiterhin mit Ihnen für einen gerechten und dauerhaften Frieden arbeiten“.
Auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) versicherte Kiew Deutschlands Unterstützung. „Niemand will Frieden mehr als die Bürgerinnen und Bürger der Ukraine! Deswegen suchen wir gemeinsam den Weg zu einem dauerhaften und gerechten Frieden“, erklärte er. „Auf Deutschland – und auf Europa – kann sich die Ukraine verlassen.“
CDU-Chef Friedrich Merz schrieb auf X: „Lieber Wolodymyr Selenskyj, wir stehen der Ukraine in guten und in schwierigen Zeiten bei“. Und weiter: „Wir dürfen niemals Aggressor und Opfer in diesem schrecklichen Krieg verwechseln.“ Trotz des Eklats und der großen Nervosität in Europa wollen Union und SPD ihren Fahrplan bei den Sondierungsgesprächen offenbar nicht ändern. Das nächste Treffen ist nach WELT-Informationen erst am Dienstag oder Donnerstag geplant.
Auch die Nato-Mitglieder Schweden und Norwegen bekundeten Kiew ihre Solidarität. Man stehe der Ukraine in ihrem Kampf für einen gerechten und dauerhaften Frieden zur Seite, erklärte der norwegische Ministerpräsident Jonas Gahr Støre auf X. Sein schwedischer Amtskollege Ulf Kristersson stellte fest, die Ukrainer kämpften nicht nur für ihre eigene Freiheit, sondern für die von ganz Europa.
Verteidigungsgipfel in London am Sonntag
Estlands Außenminister Margus Tsahkna erklärte, dass die Unterstützung seines Landes für die Ukraine „unerschütterlich“ bleibe. Das einzige Hindernis für Frieden sei die Entscheidung Putins, seinen Angriffskrieg fortzusetzen. „Wenn Russland aufhört zu kämpfen, gibt es keinen Krieg mehr. Wenn die Ukraine aufhört zu kämpfen, wird es keine Ukraine mehr geben.“ Europa müsse jetzt aktiv werden.
Ähnlich reagierte Frankreichs Außenminister Jean-Noel Barrot. Putins Russland sei der Aggressor, die Aggression richte sich gegen das ukrainische Volk. „Angesichts dessen und um unserer kollektiven Sicherheit willen gibt es nur eine Notwendigkeit: Europa, jetzt. Die Zeit der Worte ist vorbei, lassen Sie uns zur Tat schreiten.“
Allem Anschein nach ist in Europa bereits hektische Betriebsamkeit ausgebrochen: Der französische Präsident Emmanuel Macron soll nach Angaben aus dem Élysée-Palast mit Selenskyj telefoniert haben. Details wurden zunächst nicht bekannt. Die „Financial Times“ berichtet, Selenskyj habe auch mit Nato-Chef Mark Rutte telefoniert.
Schon vor dem Eklat hatte der britische Premierministers Keir Starmer für Sonntag zu einem europäischen Gipfeltreffen zur Ukraine eingeladen. Mehr als ein Dutzend Staats- und Regierungschefs sollen dabei sein, darunter auch Kanzler Scholz, sowie Kommissionschefin von der Leyen, Ratspräsident Costa und Nato-Chef Rutte. Bei einem EU-Sondergipfel zur Ukraine am kommenden Donnerstag in Brüssel wollen die europäischen Regierungschefs dann über einen Ausbau der europäischen Verteidigungsindustrie verhandeln.
Das Problem: Die Europäer sind sich nicht einig, wie viel sie riskieren wollen, um den Krieg zu beenden. Während Frankreich und Großbritannien bereit sind, nach einem Waffenstillstand Soldaten zur langfristigen Friedenssicherung in die Region zu entsenden, hält Scholz diesen Schritt für „verfrüht“. Andere Staaten – darunter auch russlandfreundliche wie Ungarn und Tschechien – würden sich am liebsten ganz heraushalten.
Paris und London schwebt eine Friedenstruppe aus 30.000 europäischen Einsatzkräften vor, die im Rahmen eines Friedensvertrags in der Ukraine stationiert werden soll, um einen Waffenstillstand zu überwachen. Die USA sollen als Schutzmacht aus der zweiten Reihe agieren – mit Luftraumüberwachung, Aufklärung und militärischer Unterstützung im Ernstfall. Ohne diesen „Backstop“, so die europäische Logik, würde Putin nur „abwarten und erneut zuschlagen“, sagte der britische Premier Starmer. Nach dem Eklat im Weißen Haus ist diese Sorge größer geworden.
In Moskau wiederum ist die Freude über Selenskyjs Abfuhr groß: „Wie Trump und (US-Vizepräsident J.D.) Vance sich beherrscht haben, diesen Drecksack nicht zu schlagen, grenzt an ein Wunder der Zurückhaltung“, erklärte die russische Außenamtssprecherin Maria Sacharowa am Freitag im Onlinedienst Telegram. Der frühere russische Präsident Dmitri Medwedjew, der heute stellvertretender Leiter des russischen Sicherheitsrats ist, bezeichnete Selenskyj als „unverschämtes Schwein“, das „im Oval Office eine ordentliche Ohrfeige“ bekommen habe.
Caroline Turzer leitet seit 2020 das Ressort Außenpolitik von WELT. Sie berichtet vorwiegend über Bildungspolitik, Geopolitik und internationale Zusammenarbeit sowie über die Zukunft der EU.
mit AFP/Reuters/AP/dpa