Nach Assads Sturz: Wie geschwächt ist Iran? | ABC-Z
Eigentlich wollte der Stadtrat von Teheran eine bereits ausgewählte Straße nach dem getöteten Hamas-Führer Yahya Sinwar benennen. Eine Mehrheit der Stadtverordneten hatte entschieden, dem Drahtzieher des Terrorangriffs auf Israel vom 7. Oktober 2023 auf diese Weise ein Denkmal zu setzen. Doch in der Öffentlichkeit gab es heftige Kritik an dem Vorhaben.
Schließlich widerrief der Rat seine Entscheidung. Am 26. Dezember verkündete die Stadtverwaltung, dass der bisherige Straßenname, der auf eine vorislamische Felsinschrift des Achämenidenkönigs Dareios I. verweist, nun doch erhalten bleibt. Eine Yahya-Sinwar-Straße soll es vorerst nicht geben.
Kopftuchgesetz vertagt
Der Namensstreit ist nur eines von mehreren aktuellen Beispielen, in denen der iranische Staat sich dem Druck der Öffentlichkeit gebeugt hat, um eine Eskalation zu vermeiden. Ein gewichtigeres Beispiel ist das vertagte Kopftuchgesetz. Nachdem es vom Parlament verabschiedet worden war, sollte es ursprünglich am 21. Dezember, mit oder ohne Unterschrift des Präsidenten, durch Veröffentlichung im Amtsblatt in Kraft treten.
Doch angesichts des erheblichen Widerstands in der Bevölkerung und Teilen des politischen Apparats veranlasste das Sekretariat des nationalen Sicherheitsrats einen Aufschub. Die Regierung kündigte an, ein neues Gesetz vorzulegen. Zudem hob die Internetaufsichtsbehörde Ende des Jahres die Blockade der Plattform Whatsapp auf. Telegram und Instagram bleiben aber gesperrt.
Offenbar setzt Teheran darauf, die Heimatfront zu befrieden, um die militärischen Rückschläge der vergangenen Monate zu verdauen. Ohne Risiko ist das nicht: Der Eindruck eines geschwächten Irans könnte innen- und außenpolitische Gegner ermutigen, den Druck auf Teheran zu erhöhen. Die Politik der begrenzten Zugeständnisse hat mit dem Amtsantritt des neuen Präsidenten Massud Peseschkian im Juli 2024 begonnen.
Teheran hat Nachschubwege verloren
Zuvor hatte die niedrigste Wahlbeteiligung in der Geschichte der Islamischen Republik offengelegt, wie gering der Rückhalt für das Regime in der Bevölkerung nur noch ist. Man kann vermuten, dass Peseschkians Zulassung zur Wahl ein Versuch war, diesem Trend entgegenzuwirken.
Seit dem Sturz des syrischen Machthabers und Iran-Verbündeten Baschar al-Assad vor einem Monat scheint Teheran noch mehr darauf bedacht, keinen Anlass für neue Proteste im eigenen Land zu bieten. Die Machtübernahme der iranfeindlichen HTS-Miliz in Syrien hat für Irans Sicherheitspolitik weitreichende Folgen. Zum einen verliert Teheran den Landkorridor zum Libanon, über den es die Schiitenmiliz Hizbullah seit Jahrzehnten mit Waffen und Geld versorgt hat.
Nach Tötung von Revolutionsgardisten: Undichte Stellen in Damaskus?
Iran nutzte Syrien nicht nur, um Waffen an die Hizbullah zu liefern, sondern auch als Standort, um sie zu produzieren, wie jene unterirdische Raketenfabrik in der Region Masjaf zeigt, die das israelische Militär nach eigenen Angaben im September zerstört hat. Syrien war seit Beginn des Bürgerkrieges zudem ein Aufmarschgebiet der Hizbullah, wo ihre Kader Kampferfahrung sammeln und sich mit anderen Milizen der „Achse des Widerstands“ koordinieren konnten.
Nicht zuletzt nutzte Iran das Land als ideologische Projektionsfläche, um sich als globale Schutzmacht der Schiiten zu inszenieren. Teheran investierte seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs nach Schätzungen zwischen dreißig und fünfzig Milliarden Dollar in Militärhilfe, um Assad an der Macht zu halten. Zuletzt wuchs in Teheran allerdings der Argwohn gegenüber dem Diktator, der versuchte, sich aus der iranischen Umklammerung zu lösen.
Die Tötung mehrerer ranghoher Offiziere der iranischen Revolutionsgarde durch israelische Luftangriffe in Syrien weckte den Verdacht von undichten Stellen in Damaskus. Dass Iran Assads Sturz am Ende nicht mehr verhindern konnte oder wollte, könnte Teherans Reputation bei anderen Verbündeten wie den Huthis im Jemen schwächen.
Auch in der eigenen Bevölkerung dürfte Irans Einflussverlust in Syrien den Eindruck verstärken, dass Teherans Kraftmeierei auf tönernen Füßen steht. Selbst aus den Reihen der Regimeunterstützer ist Kritik zu vernehmen. Es gibt Schuldzuweisungen gegen den Kommandeur der für Auslandseinsätze zuständigen Quds-Brigaden, Esmail Qaani.
Erst Syrien, dann Teheran?
Sein 2020 ermordeter Amtsvorgänger Qassem Soleimani war der Architekt der „Achse des Widerstands“, die nun in Scherben liegt. Soleimani war es, der den Obersten Führer Ali Khamenei 2011 überzeugt haben soll, Assad Schützenhilfe zu leisten. Der Khamenei-Berater Ali Akbar Velayati beschrieb Syriens strategische Bedeutung für Iran seinerzeit als „goldenen Ring des Widerstands gegen Israel“. Ein anderer Vertrauter Khameneis, Mehdi Taeb, sagte gar: „Wenn wir Syrien verlieren, werden wir nicht in der Lage sein, Teheran zu halten.“
Das teure Unterfangen war innenpolitisch jedoch umstritten. Eine im Oktober veröffentliche Meinungsumfrage der Beratungsfirma Stasis Consulting ergab, dass 78 Prozent der befragten Iraner die iranische Außenpolitik für die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes verantwortlich machen.
Allerdings unterstützte die Hälfte der Befragten die iranische Militärpräsenz in Syrien, und zwei Drittel äußerten die Ansicht, dass die Unterstützung verbündeter Milizen in der Region Iran sicherer mache. Diese Überzeugung geht auf die traumatischen Erfahrungen des Iran-Irak-Krieges (1980 bis 1988) zurück, als Saddam Hussein Teheran und andere iranische Städte bombardieren ließ.
Die Kurden, Teherans neue Verbündete?
Man kann vermuten, dass Iran seinen Einflussverlust in Syrien nicht einfach hinnehmen wird. Erste Stimmen, wie der frühere Chef der Revolutionsgarde Mohsen Rezai, fordern neue Unterstützung für jene Assad-treuen Kräfte, die in den vergangenen Tagen mehrere tödliche Angriffe auf die nun herrschende HTS-Miliz verübt haben. Als denkbar gilt auch, dass Teheran sich der kurdisch dominierten Miliz Syrische Demokratische Kräfte (SDF) als Unterstützer andienen könnte, falls sich die Vereinigten Staaten unter Donald Trump als deren bisherige Schutzmacht zurückziehen.
Ein möglicher Vorbote einer solchen Annäherung könnte Anfang Dezember die kampflose Übergabe der strategisch bedeutenden Region Deir al-Zor von abziehenden irantreuen Milizen an die SDF gewesen sein. Sieben Jahre lang hatte das Gebiet an der irakischen Grenze unter iranischer Kontrolle gestanden. Es diente Teheran als Knotenpunkt der Landbrücke nach Libanon und für Angriffe auf amerikanische Truppen.
Neben der Schwächung der Hizbullah (und der Hamas im Gazastreifen) scheint auch die zweite Säule der iranischen Abschreckung zu bröckeln: das Raketenprogramm des Landes. Israel hat bei seinem Luftangriff auf Iran im Oktober 2024 nach eigenen Angaben Anlagen bombardiert, mit denen Festbrennstoff für Langstreckenraketen produziert wird.
Experten zufolge sind die Anlagen nicht leicht zu ersetzen. Glaubt man den israelischen Angaben, dann wurde zudem die iranische Luftabwehr bei dem Angriff empfindlich geschwächt. Teheran bestreitet das. Trotz martialischer Drohungen hat Iran bisher auf einen weiteren Vergeltungsangriff verzichtet.
Angesichts der erhöhten Verwundbarkeit gibt es in Teheran seit Monaten vernehmbare Erwägungen, die eigene Abschreckungsfähigkeit durch den Bau von Atomwaffen wieder herzustellen. So sagte Kamal Kharrazi, ein Berater des Obersten Führers, im November, man sei dazu technisch in der Lage und behalte sich vor, diesen Schritt zu gehen, „wenn Irans Überleben ernsthaft bedroht ist“. Zuletzt hat Iran die Produktion hoch angereicherten Urans durch Inbetriebnahme neuer Zentrifugen massiv beschleunigt. Nach Einschätzung des Nuklearfachmanns David Albright vom Institute for Science and International Security könnte es daraus innerhalb von einer Woche waffenfähiges Spaltmaterial herstellen, sollte es sich dazu entscheiden.
Ein Atomsprengkopf binnen eines Jahres
Innerhalb von sechs Monaten wäre Teheran laut Albright in der Lage, einen Atomtest durchführen, und innerhalb von einem Jahr, einen einsatzfähigen Sprengkopf herzustellen. Dabei müsste Teheran allerdings Angriffe Israels und der USA fürchten. Nach einem aktuellen Bericht der Plattform Axios soll Sicherheitsberater Jake Sullivan Präsident Joe Biden Optionen für Angriffe auf iranische Nuklearanlagen vorgelegt haben für den Fall, dass Iran vor der Amtsübernahme Donald Trumps waffenfähiges Uran herstellen sollte.
Parallel zum Ausbau seines Atomprogramms signalisiert Teheran Gesprächsbereitschaft über ein neues Atomabkommen. Teherans Verhandlungsstrategie scheint in zwei Richtungen zu zielen. Zum einen will es verhindern, dass Deutschland, Frankreich und Großbritannien jene UN-Sanktionen wieder in Kraft setzen, die mit dem Atomabkommen von 2015 ausgesetzt wurden.
Zum anderen sendet Teheran Signale an Donald Trump, offenbar in der Hoffnung, dass dieser seine Qualitäten als Deal-Maker unter Beweis stellen will, wie er es im Wahlkampf angekündigt hat. In iranischen Medien wird bereits kontrovers über mögliche Verhandlungen mit Washington diskutiert.
Kurzstreckenraketen für Moskau
Vorerst gibt es die nur mit Europa: Schon in der kommenden Woche wollen die Unterhändler Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens und Irans zum zweiten Mal nach November zu Gesprächen in Genf zusammenkommen. Dabei dürfte auch Irans Militärkooperation mit Russland auf der Tagesordnung stehen.
Neben Drohnen soll Teheran nach Darstellung der Europäer und der USA zuletzt auch Kurzstreckenraketen an Moskau geliefert haben. Am 17. Januar will Präsident Peseschkian nach Moskau reisen, um mit Wladimir Putin ein strategisches Partnerschaftsabkommen zu unterzeichnen.
Womöglich ist es kein Zufall, dass das Treffen drei Tage vor dem Amtsantritt von Donald Trump stattfindet. Teheran häuft Verhandlungsmasse an und wappnet sich für eine Neuauflage von Trumps Politik des maximalen Drucks. Insbesondere muss es fürchten, dass die neue amerikanische Regierung durch eine schärfere Durchsetzung bestehender Sanktionen Irans Ölexport nach China dezimieren will, die einen bedeutenden Anteil der Staatseinnahmen ausmachen. Zudem muss Teheran damit rechnen, dass Trump Israel freie Hand bei weiteren möglichen militärischen Operationen gegen Iran lässt.
Der Wert der iranischen Währung Rial war deshalb nach der Wahl Trumps im November auf einen historischen Tiefstand gefallen. Gepaart mit einer Inflation von mehr als 30 Prozent, nährt das die Unzufriedenheit in der iranischen Bevölkerung. Hinzu kommt aktuell eine schwere Energiekrise, die unter anderem daraus resultiert, dass die amerikanischen Iran-Sanktionen die Modernisierung von Energieanlagen erschweren. Laut der „New York Times“ tragen auch die Folgen eines israelischen Angriffs vom Februar auf zwei zentrale Gaspipelines dazu bei. Sie sollen die Behörden dazu gezwungen haben, Notreserven anzuzapfen, die jetzt fehlen.
Der Gas- und Strommangel ist so akut, dass derzeit Schulen und Universitäten geschlossen sind, die Öffnungszeiten von Ämtern verkürzt und manche Fabriken stillgelegt wurden. Aus Sicht der Bevölkerung sind das wohl die sichtbarsten Zeichen dafür, dass ihr Land sich in einer tiefen Krise befindet. Schließlich verfügt Iran über die zweitgrößten nachgewiesenen Gasreserven der Welt.