Mutter und Sohn erzählen vom Kampf gegen die Drogensucht | ABC-Z

Dass er süchtig sein könnte, hat Jonathan eigentlich bis zum Schluss nicht gedacht. Abgesehen vom Feiern ist es die Sicherheit, die zählt. Hast du Angst, gibt es Kokain, bist du müde, gibt es Ecstasy, willst du schlafen, nimmst du Benzodiazepine, willst du gut drauf sein, der König der Welt, gibt es eine ganze Menge. Für jede Lage eine Lösung. „Irgendwer hat immer irgendwas“ lautet die Devise. Nur leider hat alles Nebenwirkungen. Gegen die hilft dann auch wieder etwas.
„Jeder, der Drogen nimmt, wird dir sagen, dass das Erste Alkohol und Nikotin waren“, sagt Jonathan Schyns sachlich. Wenn er von den ersten „Feiern“ am Frankfurter Mainufer erzählt, klingt das lustig. Siebte, achte Klasse war das. Und dass die Mütter damals dachten, die halbflüggen Kinder seien eislaufen! Auch Susanne Schyns dachte das. Der Sohn ist mit Gleichaltrigen an der frischen Luft, treibt Sport. „Es hat eine Weile gedauert, um zu begreifen, wie ernst es ist“, sagt sie heute.
Ein Teenager, der erste Erfahrungen mit Alkohol macht, das klingt so banal. Hasch, mittlerweile legal erhältlich, konsumieren so viele Jugendliche und Erwachsene, einmal, ein paarmal. In der Familie Schyns-Meyer war es wie bei den meisten. Man denkt: In unserer Familie passiert so etwas nicht. Die Mutter machte sich Gedanken, der Vater fand, das dürfe man nicht so eng sehen. Als der Vater Michael Meyer eines Abends der Polizei die Tür öffnen muss, sagt er noch: „Mein Sohn macht so was nicht.“ Da geht es schon um Unfälle, Diebstähle, polizeiliche Vernehmungen.
„So jemand will ich nicht sein“
Der Gedanke, „so jemand will ich nicht sein“, sei schon immer wieder mal da gewesen, sagt Jonathan heute. „Aber das wurde immer wieder überlagert. Bis der große Knall kam. Und danach hat es noch gedauert, bis ich mich überwinden konnte, professionelle Hilfe anzunehmen.“ Der große Knall, das war ein Unfall unter Drogeneinfluss mit dem Familienauto. Ohne Führerschein. Ein Glück, dass niemand zu ernsthaftem Schaden kam. Schon zuvor hatte Jonathan unter Drogen einen Unfall mit dem Mofa gebaut. „Da habe ich angefangen, Angst zu kriegen“, sagt die Mutter, „aber auch da habe ich noch nicht an Sucht gedacht.“
Es ist ein ungeheuer langer Weg, den Jonathan, seine Mutter, die ganze Familie und jene Freunde, die ihm treu geblieben sind, zurückgelegt haben. Alleine – und zusammen. Um zu verstehen, was passiert ist, sagen Mutter und Sohn Schyns, erzählen sie davon. Seit September 2024 machen sie das auf der Bühne. „High – Irgendwer hat immer irgendwas“ haben die beiden am Theaterhaus Frankfurt erarbeitet, in dessen Ensemble Susanne Schyns seit der Gründung als Schauspielerin engagiert ist. Man kennt sie als starke Darstellerin, Sängerin, Tänzerin.
Dass es jahrelang jenseits der Bühne düster für sie aussah, hätte niemand geahnt. Auch das ist recht typisch für das, was passiert, wenn ein Kind drogensüchtig wird. „Wir haben es nicht nur für euch gemacht, sondern auch für uns“, sagen die beiden nun zu Beginn ihres Stücks für alle von 13 Jahren an. Es ist ein Dialog, eine Spurensuche, eine ehrliche Erzählung von dem, was Rausch und Abhängigkeit bedeuten. Dazu gehört auch, dass Jonathan dem Publikum erklärt: „Es war nicht nur dunkel. Es war spannend und geil.“
Langes Warten auf Therapie und Unterstützung
Jonathan ist nicht nur auf der Bühne hellwach, ungeheuer konzentriert, zugewandt. Vieles von dem, was zwischen seinem 13. und 19. Lebensjahr passiert ist, liegt für ihn im Dunkeln. Er weiß es nicht. Manches kommt wieder, durch die Erinnerungsarbeit in der Therapie – und in den vielen Gesprächen, die dem Stück vorangegangen sind. Nachdem er nach dem großen Knall in den Entzug gegangen war, fuhr die Mutter mit ihm kurzerhand drei Wochen nach Frankreich. Nur sie beide. Denn bis nach dem Entzug eine Therapie beginnt, ein Platz gefunden ist, können Wochen, bisweilen sogar Monate vergehen. Ein Risiko, denn in dieser Zeit kann man jederzeit rückfällig werden. „Es gibt schon genug Angebote“, sagt Jonathan, „aber Termine zu bekommen, ist schwierig. Die Wartezeit ist lang.“
Es ist nicht der einzige Missstand, auf den die beiden auch in ihrem Stück eingehen. Allein von der Bushaltestelle bis zum Eingang in den Hof des Theaterhauses liegen zehn der schwarzen Ballons, mit denen Lachgas konsumiert wird, die leeren Kartuschen, die in „High“ als Requisiten verwendet werden, kann man rings um das Theater aus dem Gebüsch klauben, sie quellen aus den Mülleimern am Neuen Börneplatz. Jonathan Schyns empört das. Dass es so einfach ist, als Jugendlicher sogar die ganz großen schwarzen Kartuschen zu kaufen. Obwohl jeder weiß, dass die nicht dafür benutzt werden, Schlagsahne zu produzieren oder Ballons aufzupusten.
Im Stück macht er das vor: Ballon an der Kartusche füllen, tief einatmen. Und erklärt dann, dass er das natürlich nicht wirklich macht. Überzeugend wirkt er dennoch. Susanne Schyns ist vor allem die Medikamentenabhängigkeit wichtig. Dass Jugendliche sich gegen ihre Angstzustände selbst therapieren und so süchtig werden, werde nicht gesehen, Medikamente seien viel zu leicht zugänglich. „Auch bei mir im Jahrgang gab es große Unsicherheit. Das muss nicht automatisch in den Drogenkonsum führen. Aber gerade die Generation nach mir, Jahrgang 2003 und höher, ist häufig von Depression und Auffälligkeiten betroffen“, sagt Jonathan.
Medikamentenmissbrauch betrifft auch junge Schüler
Dass in der Schule Drogen konsumiert wurden, sogar vor dem Schultor gedealt wurde, habe das Gymnasium nicht thematisiert. Und weil während der Corona-Zeit alle in der Schule schlecht waren, fiel Jonathans geistige Abwesenheit nicht auf. Das Fachabitur hat er mit viel Glück hingekriegt. „Das war so ein Moment, in dem ich verstanden hatte, dass alles andere schiefläuft“, sagt er.
Dass die beiden heute in den Nachgesprächen in jedem Publikum 13, 14 Jahre alte Schüler sitzen haben, die jemanden kennen, der konsumiert, widerspreche dem, was Fachleute sagen: dass Medikamentenmissbrauch in dieser Altersgruppe noch keine Rolle spiele. Fälscht man halt Rezepte, sagt Jonathan lapidar – oder besorgt sie sich im Internet. Auch da gilt: Irgendwer hat immer irgendwas.
Drogen habe es schon immer gegeben, sagt Susanne Schyns. „Was ich mir wünsche und was ich hoffe, mit dem Stück zu erreichen, ist ein Bewusstsein für das Risiko, das man eingeht. Du weißt nicht, ob du eine Person bist, die süchtig wird, oder nicht.“ Und man will es oft, so wie Jonathan, lange nicht wissen. Auch in seinem Umfeld hat es Tote gegeben, die Mutter hatte permanent Angst. Angst, den Sohn zu verlieren, Angst, dass die Familie zerbricht.
Auszeichnung mit dem Kinder- und Jugendtheaterpreis Karfunkel
„Ich bin so froh, dass ich drangeblieben bin“, sagt sie. „Ich dachte zwei Jahre lang: Das war’s. Wir werden nie wieder Kontakt haben.“ Sie beschloss für sich, Hilfe, eine Therapie zu suchen, um zu sortieren, wo die Gefühle, die Schuldzuweisungen herkommen und hingehören. Sie sprach mit anderen offen über Jonathans Sucht. Der war davon befremdet.
Das ist heute anders. Jonathan hat den Schritt in einen neuen Lebensabschnitt getan. Er studiert jetzt Architektur an der Hochschule Darmstadt, lebt in einer Studenten-WG, in einer anderen Stadt, emanzipiert sich, wieder, anders, neu. Packt die Theaterarbeit in das neue Leben. Diejenigen, die ihn näher kennen, wüssten von seiner Suchtgeschichte, sagt er.
Aufklärung und Hilfe statt Stigmatisierung ist der Wunsch beider nach allem, was sie, einzeln und gemeinsam, erlebt haben. Daraus speist sich das Stück, das nach einer Pause jetzt wieder gespielt wird. Es habe an Tiefe gewonnen, sagen beide, sagt auch Rob Vriens, der Regisseur. 20 Vorstellungen haben die beiden schon gegeben, das Interesse ist enorm. Die Direktheit, mit der sie, tanzend, singend, streitend, sich vorsichtig nähernd, das künstlerisch bearbeiten, was ihnen widerfahren und was ihnen ein Anliegen ist, kommt beim Publikum an.
Weil es keines der üblichen schwarzmalerischen Präventionsstücke mit Happy End und Flyern von Beratungsstellen ist. Für die Kunst, die sich aus der wahren Geschichte speist, werden die beiden und das Theaterhaus Ensemble nun mit dem Kinder- und Jugendtheaterpreis Karfunkel der Stadt Frankfurt ausgezeichnet.
„Mein absolutes High ist der Applaus auf der Bühne“
„Wir sind persönlich, aber nicht privat“, sagt Susanne Schyns über die Bühnenarbeit. Persönlicher, als Jonathan zunächst gewollt hatte. Aber nach ersten Proben mit dem Choreographen Leo Kees hatte Rob Vriens, vertrauter Regisseur des Ensembles, übernommen und Jonathan davon überzeugt, dass es seine Person brauchte, um das Stück echt zu machen. „Da konnte ich das in den Proben zulassen“, sagt er. „Ich wollte auch nicht derjenige sein, der als Ex-Konsument die Weisheit mit Löffeln gefressen hat. Und ein gewisser Abstand sollte auch sein.“ Jonathan habe die Grenzen gesetzt, sagt die Mutter. Und hätte jederzeit absagen können – „auch eine Woche vor der Premiere noch“. Dazu kam es nicht.
Dass die beiden in der Theaterarbeit, die „ein Geschenk“ sei, sogar gemeinsam tanzen, sei wohl das Erstaunlichste, sagen sie beide. Und das, obwohl Jonathan heute sagt: „Es kann mich nichts mehr überraschen. So fühlt sich alles oft relativ langweilig an.“ Obwohl es viele Filmrisse gibt aus seiner Zeit mit Drogen, hat er doch extrem viel mehr erlebt als viele seiner Altersgenossen. Ist er über den Berg? „Ich fühle mich so. Aber ich bin mir absolut bewusst, dass für mich das Risiko hoch ist. Ich könnte leicht wieder abrutschen.“ Seine Mutter sagt, sie habe diese Ängste. Jonathan, Stand jetzt, nicht. „Eine gewisse Vorsicht ist da. Aber ich habe heute eine gefestigte Zukunftsperspektive.“ Und er geht weiter regelmäßig zu Gesprächen in der Suchthilfe.
Heute macht er Sport, ist in der Lage, sich durch „normale Sachen“ das Glücksgefühl zu bereiten, das er früher nur durch Drogen erlangen konnte. Auch das ein Lernprozess von Mutter und Sohn: Dass es die Rezeptoren im Gehirn sind, die ausschlaggebend sind für die Sucht, wusste sie nicht, sagt Susanne Schyns. Für Jonathan war gerade das im Entzug eine Erleichterung: „Es tat gut zu wissen, dass das ein biochemischer Prozess ist, den man überwinden kann.“ Dafür allerdings muss man wissen, dass man süchtig ist. „Mein High“, sagt Susanne Schyns, „mein absolutes High ist der Applaus auf der Bühne.“
High ist das nächste Mal von 24. bis 26. März in der Theaterwerkstatt im Zoo Frankfurt zu sehen.