Muss Deutschland jetzt keine Flüchtlinge mehr filmen? | ABC-Z

Kaum eine Debatte birgt in der Europäischen Union (EU) so viel Sprengstoff wie diese: Wer nimmt wie viele Migranten auf? Seit 2015 ringen die europäischen Staaten mit einem gemeinsamen Asylsystem. Im kommenden Sommer soll es soweit sein – das GEAS tritt in Kraft. Kern der neuen Migrationspolitik ist der „Solidaritätsmechanismus“. Die Idee: Schutzsuchende sollen an der EU-Außengrenze registriert und dann gerecht unter den 27 EU-Ländern verteilt werden.
Nun geht die EU-Kommission den nächsten Schritt: Sie sagt in einer ersten Analyse, welche Staaten besonders belastet sind – und welche künftig stärker solidarisch sein müssen. Und Deutschland, so der zuständige EU-Kommissar Magnus Brunner, könne verlangen, dass es bis mindestens Ende 2026 keine zusätzlichen Asylsuchenden aus anderen Mitgliedstaaten aufnehmen muss.
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EU-Kommissar: Deutschland ist bereits besonders belastet
Diese Nachricht löst Zustimmung aus, vor allem bei der Bundesregierung. Man begrüße, dass die EU anerkenne, wie viel Deutschland bei der Aufnahme von Geflüchteten geleistet habe. „Wir waren in der Vergangenheit sehr solidarisch. Das hat große Spannungen in unserer Gesellschaft erzeugt“, sagt auch Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) unserer Redaktion. „Die Bewertung der EU-Kommission belegt unsere große Leistung. Jetzt müssen andere Länder der EU nachziehen.“
Einerseits. Andererseits wächst hinter den Kulissen eine Sorge: Steigt Deutschland aus dem Solidaritätsmechanismus aus, kippt das ganze System.
Um das zu verstehen, muss man eintauchen in die geplante EU-Asylreform. Europa will Asylverfahren künftig an den Außengrenzen durchführen, Flüchtlinge dort in einem „Screening“ registrieren, deren Sicherheitsrisiken prüfen. Menschen mit geringer Chance auf Asyl werden interniert, sollen im Schnellverfahren abgeschoben werden. Menschenrechtler kritisieren, dass Personen nach internationalem Recht nicht allein dafür inhaftiert werden können, dass sie einen Asylantrag stellen.
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Mittelmeer-Anrainer-Staaten sollen ebenfalls entlastet werden
Nun ist der erste Gedanke: Schon jetzt klappt es nicht, dass Italien und Griechenland, Spanien oder Zypern die Flüchtlinge registrieren – wie soll das künftig laufen, wenn die Verfahren noch aufwendiger sind? Hier kommt der Solidaritätsmechanismus ins Spiel: Eben diese vier Mittelmeer-Anrainer sind in der EU-Kommission aktuell eingestuft als „unter Migrationsdruck“. Andere europäische Länder sollen ihnen Menschen abnehmen.
Damit noch nicht genug: Unter einer „ausgeprägten Migrationslage“ stehen laut EU-Kommission Österreich, Bulgarien, Tschechien, Estland, Kroatien und Polen. In den vergangenen fünf Jahren kamen hier im Verhältnis zur Bevölkerungszahl und dem Bruttoinlandsprodukt überdurchschnittlich viele Schutzsuchende an. Auch sie sollen entlastet werden.
Die EU-Kommission will jetzt schaffen, was seit 2015 nicht gelingt: in gemeinsames europäisches Asylsystem.
© IMAGO/Anadolu Agency | IMAGO/Dursun Aydemir
Deutschland gilt also gar nicht als besonders stark belastet – jedenfalls bei den Asylerstanträgen. Was die EU-Kommission nun aber hervorhebt: Die deutschen Bundesländer und Kommunen versorgen eine Vielzahl an Flüchtlingen, für die eigentlich andere Staaten wie Italien oder Griechenland verantwortlich sind – sogenannte „Dublin-Fälle“. 2024 beantragte Deutschland für rund 74.583 Menschen eine Überstellung in einen EU-Staat, damit dort das Asylverfahren startet. Nur knapp 6000 Fälle wurden am Ende abgeschoben. Die Geflüchteten bleiben hier.
Migrationsexperte: „Das Ergebnis wäre, dass sich praktisch gar nichts ändert“
Das soll sich Deutschland im künftigen Mechanismus anrechnen können – und so von Übernahmen aus anderen Staaten befreit werden. Nur was ändert sich dann? Der Migrationsrechtsexperte Daniel Thym von der Universität Konstanz fasst es so zusammen: „Das Ergebnis wäre, dass sich praktisch gar nichts ändert, weil die Leute ja ohnehin schon in Deutschland leben.“
Ob Deutschland tatsächlich weniger Menschen aufnehmen und versorgen muss, hängt somit von vielen Faktoren ab: Erstens, übernehmen Italien und Griechenland künftig die Asylverfahren, für die sie verantwortlich sind? Zweitens, was passiert, wenn sich Staaten wie Polen aus dem EU-System ausklinken, weil sie noch mehr Menschen aus der Ukraine aufnehmen müssen? Ein Faktor sei auch, wie viele Staaten statt einer Aufnahme eines Migranten eine Geldleistung erbringen, sagt Raphael Bossong, Europa- und Migrationsexperte bei der Stiftung Politik und Wissenschaft in Berlin, im Gespräch mit unserer Redaktion.
Denn: Der EU-Mechanismus sieht auch vor, dass Staaten 20.000 Euro pro Geflüchteten zahlen können, den sie nicht aufnehmen wollen. Auch Technik wie Kameras oder Polizeibeamte für den Grenzschutz an der Außengrenze können EU-Länder entsenden – und so weniger Migranten aufnehmen. Staaten wie Ungarn zählen laut EU-Kommission zu den Ländern ohne Migrationsdruck. Die autoritäre Regierung von Viktor Orbán müsse uneingeschränkt Solidarität leisten. Wenig denkbar, prognostizieren Fachleute.
Seit Mitte 2023 gehen die Asylzahlen in Deutschland deutlich zurück. Und auch in der EU
Der politische Druck auf die EU-Spitze bleibt hoch, heißt es hinter den Kulissen. Ohnehin werde das Grenzregime mit den Lagern und Screening-Stellen frühestens 2027 oder sogar erst 2028 funktionieren.
Werden Migranten schneller registriert und die EU-Flüchtlingsdatenbank Eurodac modernisiert, kann das auch Deutschland entlasten, so Experte Bossong. Zudem gilt: Seit Mitte 2023 gehen die Asylzahlen in Deutschland deutlich zurück. Wurden im Gesamtjahr 2023 noch knapp 330.000 Asylerstanträge gestellt, so sank diese Zahl 2024 auf knapp 230.000 Erstanträge. In den ersten zehn Monaten dieses Jahres stellten rund 97.000 Menschen erstmalig einen Antrag auf Schutz.
Laut der Untersuchung des Mediendienstes Integration, an der sich 894 Kommunen bundesweit beteiligt haben, arbeitet nach eigener Einschätzung aktuell rund jede zehnte Kommune bei der Versorgung von Schutzsuchenden „im Notfallmodus“. Knapp 17 Prozent gaben an, „ohne größere Schwierigkeiten zurechtzukommen“. Die meisten Kommunen – rund 72 Prozent – bezeichneten die Lage als „herausfordernd, aber noch machbar“.
Ein Fünftel weniger irreguläre Einreisen in die EU in diesem Jahr
Was für Deutschland gilt, zählt in der gesamten EU. Laut der Grenzschutzagentur Frontex ist die Zahl der irregulären Einreisen nach Europa in den ersten zehn Monaten 2025 um 22 Prozent gesunken. Das liegt laut Fachleuten vor allem daran, dass der Bürgerkrieg in Syrien beendet ist. Italiens restriktivere Asylpolitik spielt eine Rolle, aber auch Spaniens liberalerer Arbeitsmarkt für Migranten. Einen Effekt haben auch die Polizeimaßnahmen gegen Schleusergruppen in Südosteuropa. Umstritten ist, wie groß die Auswirkungen von Dobrindts verschärften Grenzkontrollen sind. Doch auch sie können einen Effekt auf sinkende Zahlen haben.
All das bedeutet aber nicht, dass weniger Menschen weltweit auf der Flucht sind. Mehr als 120 Millionen Vertriebene zählen die Vereinten Nationen. Im Sudan spielt sich mit elf Millionen Geflüchteten die größte Krise der Welt ab – nur Europa bekommt davon bisher wenig mit.
„Die Zahl der Menschen, die aus der Ukraine zu uns kommen, nimmt drastisch zu.“
Anders ist es mit dem Krieg in der Ukraine. Millionen Menschen sind seit dem russischen Angriff geflohen, mehr als eine Million nach Deutschland. Für Geflüchtete aus der Ukraine gilt das EU-Asylsystem nicht. Sie finden Schutz unter der EU-Massenzustromrichtlinie, die ihnen Zugang sofortigen zum Arbeitsmarkt und zum Gesundheitssystem erlaubt – anders als bei Asylsuchenden aus Syrien oder Afghanistan.
Hauptstadt Inside von Jörg Quoos, Chefredakteur der FUNKE Zentralredaktion
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Die Zahl der Flüchtlinge aus der Ukraine steigt in Deutschland aktuell stark an. Unsere Redaktion hatte als Erstes darüber berichtet. Das liegt zum einen daran, dass Männer zwischen 18 und 23 Jahren das Land verlassen dürfen. Zudem hat Polen die Sozialleistungen für Ukrainer deutlich beschnitten. Sachsens Ministerpräsident Kretschmer will das Thema auf die Agenda der Innenministerkonferenz Anfang Dezember setzen und dringt darauf, weniger Menschen aus der Ukraine aufzunehmen. „Die Zahl der Menschen, die aus der Ukraine zu uns kommen, nimmt in den letzten Monaten drastisch zu.“ Da entwickele sich „ein großer Strom“. Es gehe nicht, „dass wir immer mehr Menschen aufnehmen“, so der Ministerpräsident.
Wie bei der Flucht aus Nahost und Afrika über das Mittelmeer, ist auch die Lage in der Ukraine kaum vorhersehbar. Russland feuert massiv auf die Energieversorgung in dem Land, das auf den bislang schwersten Kriegswinter zugeht, wie Fachleute hervorheben. Solange die Asylzahlen niedrig sind, so heißt es in Berlin wie auch in Brüssel, kann das neue EU-Verteilsystem funktionieren. Der eigentliche Stresstest aber komme erst, wenn die nächste große Krise, der nächste blutige Krieg die Menschen nach Europa treibt.















