Hannover 96: Der komplett renovierte Tabellenführer – Sport | ABC-Z

Den Spott bekam Virgil Ghita gratis dazu. Reichlich euphorisiert hatte sich Hannovers Abwehrspieler vor eine Kamera gestellt und den 2:1-Sieg bei Holstein Kiel bejubelt, bei dem Ghita, 27, ein Tor gelungen war. Nur mit dem Namen seines neuen Klubs haperte es. Der Rumäne sprach auf Englisch, einmal ging alles gut („Dear 96-Fans“), einmal gehörig schief. „69 till the end“, rief Ghita den Anhängern zu: Hannover 69 bis zum Ende.
Im Internet ging der Zahlendreher flink viral. Es birgt eben auch Risiken, sich einen komplett neuen Kader mit gleich 17 Zugängen (!) aus zahlreichen Ländern inklusive eines neuen Trainerteams zu gönnen. Wobei sowohl bei Hannover 69 als auch bei Hannover 96 momentan klar die Vorteile dieses Komplettumbaus überwiegen. Nach tristen Zweitligajahren, in denen der Klub immer mehr oder weniger als Aufstiegsmitfavorit galt, dieses Etikett aber nie rechtfertigen konnte, entschied sich 96 im Sommer zu einer Radikalrenovierung.
:Absturz in 115 Tagen
Unter André Breitenreiter hat Zweitligist Hannover 96 wohl alle Aufstiegschancen verspielt – deshalb muss er schon wieder gehen. Martin Kind gesteht Fehler ein und warnt.
17 Spieler kamen, noch mehr verließen den Verein. Darunter prominente Namen wie der langjährige Torwart Ron-Robert Zieler (zum 1. FC Köln), der frühere Nationalspieler Marcel Halstenberg (Germania Grasdorf) oder der U21-Stürmer Nicolò Tresoldi, der für eine Summe von rund sieben Millionen Euro zum belgischen Klub FC Brügge ging. Bei den Zugängen ist kein richtig prominenter Name dabei, Hannover wurde vor allem in den unteren Ligen im In- und Ausland fündig. Viel Geld hat auch kein Neuer gekostet.
Vom Akklimatisierungsprozess, den eine solche Vielzahl an neuen Angestellten normalerweise nötig macht, kann bislang kaum die Rede sein. Der neue Trainer Christian Titz hat aus den Spielern schnell ein funktionierendes Gebilde errichtet, ein erfolgreiches hinzu. Vier Partien ist die Zweitligasaison alt, viermal hat 96 gewonnen, gegen Kaiserslautern, Düsseldorf, Magdeburg und Kiel. Als Tabellenführer empfängt Hannover nun am Samstagabend die hoch gehandelte, aber bislang sieglose Hertha aus Berlin. Einziger Schönheitsfehler war bislang das Erstrundenaus im DFB-Pokal, aber das hat bei 96 fast schon Tradition (dreimal in den vergangenen drei Jahren, diesmal gegen Energie Cottbus).
So richtig hat mit dem besten Saisonstart seit Jahren niemand gerechnet
Hannover wäre nicht Hannover, würde das Umfeld nicht bereits zu träumen beginnen. Zwölf Punkte aus vier Spielen, gegen Hertha ist das Stadion am Samstag schon zum zweiten Mal in dieser Saison mit 49 000 Menschen ausverkauft. Einen echten Aufstiegsfavoriten gibt es in dieser Zweitligasaison nicht, Köln und Hamburg sind in die erste Liga weitergezogen, Hertha BSC sowie die Absteiger Kiel und Bochum sind schlecht gestartet. Vielleicht war es tatsächlich lange nicht mehr so machbar, die Rückkehr in die Bundesliga zu bewerkstelligen.
Doch Trainer Titz und der für die sportliche Ausrichtung maßgeblich verantwortliche Geschäftsführer Marcus Mann sind die falschen Leute, um die Euphorie noch weiter zu schüren. Mit dem besten Saisonstart seit Jahren hat niemand gerechnet, nicht mal Martin Kind, der immer noch präsente Investor, mittlerweile 81 Jahre alt. Das vergangene Jahr verlief mehr als turbulent, angefangen mit der abrupten Entlassung von Trainer Stefan Leitl in der Winterpause. Es folgte die ebenso überraschende Rückholaktion von André Breitenreiter, der allerdings keine vier Monate blieb und im April wieder fort war. Nun ist Titz der Taktgeber, der sich trotz anderer Angebote für Hannover entschied.
Seine Ideen vom radikalen, ballbesitzorientierten Offensivfußball und der zusammengewürfelte Kader passen offensichtlich gut zusammen, besser als bei Titz’ vorherigen Trainerstationen in Hamburg oder Magdeburg. Da wäre die Sache mit Torwart Nahuel Noll, Leihgabe der TSG Hoffenheim, der im Spielaufbau weit aufrückt, oft bis in die Reihe der Innenverteidiger, und dort den Ballverteiler spielt. Auch wenn das riskant ist und im Saisonverlauf vielleicht auch mal schiefgehen wird, erzeugt das Team so im Mittelfeld fast immer eine Überzahlsituation. Die Dreierkette in der Abwehr ist mit Ghita (von KS Cracovia), Ime Okon (SuperSport United) und Boris Tomiak zu zwei Dritteln neu besetzt, erst zwei Gegentore gab es in vier Spielen. Und im Angriff hat Titz gleich mehrere Spieler zur Verfügung, die den Gegner im Eins-gegen-eins-Spiel gehörig stressen können. Ob Daisuke Yokota (von KAA Gent), Mustapha Bundu (Plymouth Argyle) oder Hayate Matsuda (FC Mito HollyHock): Sie alle kamen von kleineren Klubs, verfügen für Zweitligaverhältnisse aber über eine verblüffende Qualität.
In der gerade absolvierten Länderspielpause traf der kleine HSV aus Hannover den großen HSV aus Hamburg zum Testspiel. 3:1 gewann 96, und die meisten Beobachter waren sich einig, dass der Sieg für den Zweitligisten um einige Tore hätte höher ausfallen können.
Nur ein Luxusproblem hat Titz gerade zu moderieren: zu viele fitte Spieler. Aus der Länderspielpause sind alle Spieler gesund wiedergekehrt, für einige wird kein Platz sein im Kader für das Hertha-Spiel. „Das werden keine ganz leichten Entscheidungen“, kündigte Titz an. Aber das kann sich auch schnell wieder ändern: Titz ist in Hannover angetreten mit dem Motto, dass es in seiner Mannschaft keine elf Stammspieler mehr gibt. Jeder kann reinkommen, jeder kann rausfallen. Das geht vermutlich so lange gut, wie die Mannschaft ihre Spiele gewinnt. Aber das tut sie ja.