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ESC: Halbfinale, zweiter Teil – Medien | ABC-Z

Aber dafür steigt das Eskalationsrisiko natürlich an diesem zweiten Abend, obwohl versucht wurde, manches schon im Vorfeld zu lösen. So musste Miriana Conte, die für Malta antritt, ihren Song „Kant“ umtaufen. Nicht, weil die Organisatoren etwas gegen Immanuel Kant und dessen Transzendentalphilosophie hätten, sondern einfach, weil das Wort auf Englisch zu sehr nach „Cunt“ klingt, also wie eine abwertende Bezeichnung für das weibliche Geschlechtsorgan. Mit dem großen Philosophen der Aufklärung hatte das alles übrigens ohnehin nichts zu tun, „Kant“ bedeutet auf Maltesisch einfach singen.

Obwohl: Natürlich spielt Aufklärung in jeder Bedeutung des Wortes eine Rolle und großzügig ausgelegt auch beim Beitrag der Finnin Erika Vikman. Richtig gehört. Der Auftritt zu ihrem Song „Ich komme“ (richtig gelesen) musste im Vorfeld angeblich entschärft werden. Es wird aber auch so noch klar, worum es geht. Moderatorin Hazel Brugger hat auch, vielleicht um von der einen oder anderen Kontroverse abzulenken, ihren Korallen-Blazer vom ersten Abend gegen ein sehr umständlich aussehendes Kleid mit funkelnden Riesen-Pailletten getauscht.

Hazel Brugger und  Sandra Studer in den neuen Outfits. (Foto: Fabrice Coffrini/AFP)

Keine Umbenennung und kein Kostümwechsel kann aber den Nahostkonflikt entschärfen und die auch in diesem Jahr wieder riesige Kontroverse um den israelischen Beitrag kaschieren. Demonstranten, Aktivisten und sogar einige ESC-Künstler wie Nemo, der Gewinner aus dem vergangenen Jahr, forderten den Ausschluss Israels. Manche wegen der Kriegsführung der Regierung Benjamin Netanjahus in Gaza, andere, weil sie Israel grundsätzlich ablehnen.

Der Abend war nun also auch ein Test für die ESC-Gemeinschaft, diesen Populärkulturspiegel Europas. Im Gespräch mit dem Schweizer Rundfunk hatte der Kulturtheoretiker Jens Balzer gerade die These aufgestellt, der ESC habe mehr für das Gemeinschaftsgefühl Europas getan als die Europäische Union. In jedem Fall war und ist der ESC seit Jahrzehnten ein Safe-Space für queere und andere Identitäten, zugleich fördert er eben nicht nur den Wettbewerb zwischen den Nationen, sondern bringt sie auf einer Bühne zusammen. Seit Langem ist es außerdem Tradition, die Aufteilung der Delegationen nach Nationalstaaten zu unterlaufen, indem zum Beispiel wie in diesem Jahr mit Abor & Tynna zwei Österreicher mit osteuropäischen Wurzeln für Deutschland antreten.

Das Europa dieses Gesangwettbewerbs ist auch eine Idee

Im vergangenen Jahr in Malmö war allerdings der israelische Beitrag von Eden Golan ausgebuht worden, wegen massiven Protesten konnte die Sängerin praktisch die gesamte Woche ihr Hotelzimmer kaum verlassen. Bei einer der öffentlichen Proben am Mittwochabend war nun auch in Basel der Auftritt von Raphael von Pfiffen gestört worden. Der Umgang mit diesem kontroversen Thema wird mit jedem Jahr mehr zum Testfall für dieses queere, progressive und offene Europa, das sich beim ESC im besten Fall manifestiert.

Und diesen Geist spürt man gleich beim ersten Act des Abends: Australien. Allein, dass Australien (so wie Israel) am ESC teilnimmt, zeigt schon: Das Europa dieses Gesangwettbewerbs ist auch eine Idee, ein Ideal der Offenheit und des Liberalismus. Manche wollen die Europäische Union ja nach Kanada ausweiten. Der ESC ist da tatsächlich längst weiter.

Den „Milkshake Man“ von Go-Jo, der wirklich einen riesigen Shaker auf die Bühne mitgebracht hat, könnte man einfach in der Gaga-Abteilung des ESC einsortieren. „Shake is not a drink, it is a state of mind“, singt er. Der Shake ist kein Getränk, sondern ein Geisteszustand. Bitte einmal gut durchmischen. Klingt nach dem, was hier gerade passiert. Nur am Samstag leider nicht mehr. Go-Jo wurde vom Publikum rausgewählt. Schade.

Für den „Milkshake Man“ muss natürlich ein Mixer auf die Bühne.
Für den „Milkshake Man“ muss natürlich ein Mixer auf die Bühne. (Foto: Fabrice Coffrini/AFP)

Montenegro fährt an zweiter Stelle mit Nina Žižić alles an Dramatik auf, was die Bühnentechnik hergibt: Kunstnebel, Sonnenfinsternis, gigantische Efeuranken auf dem Bildschirm. Und ein Kleid, wie eine riesige weiße Blüte. So richtig entfaltet sich da aber nichts. Emotionale Druckbetankung funktioniert eben nicht. Wird auch rausgewählt.

Für Irland tritt die Norwegerin Emmy an und singt über Laika, den russischen Hund, der in den Weltraum geschossen wurde und das leider nicht überlebte. Die Keyboards könnten auch von Europe sein, der Beat kommt direkt aus den 80er-Jahren und der Refrain besteht aus „Bada bumm, bumm, bumm, bumm, bumm, bumm“. Reicht nicht fürs Finale.

Da stellt sich nun hinterher die Frage: Könnte es sein, dass die ersten Auftritte einen Nachteil beim Voting haben? Weil den Zuschauern, bis sie abstimmen dürfen, schon so viele andere Musik ins Hirn gehämmert wurde? Könnte sein.

Dagegen spricht allerdings Lettland: Tautumeitas machen so etwas wie mehrstimmigen Ethno-Pop. Klingt wie eine fröhliche Version von Dead Can Dance oder Heilung. Originell. Und auch das Bühnenwettrüsten der anderen machen die sechs als eine Art Baumwesen verkleidete Lettinnen nicht mit: Sie tanzen und singen nur vor und hinter einem Schnurrvorhang. Weird, aber auf die gute Art. Sind im Finale.

Untypisch für den ESC, aber spannend: die Lettinnen von  Tautumeitas.
Untypisch für den ESC, aber spannend: die Lettinnen von Tautumeitas. (Foto: Jens Büttner/Jens Büttner/dpa)

Armenien schickt Parg mit nacktem Oberkörper zu martialischen Beats und Flammensäulen auf ein Laufband. Erinnert an Fitnessstudio für 10,99 Euro im Monat. Oder an einen Gentlemen’s Club. Aber von der Sorte, wo Gentlemen ein Euphemismus ist. Muss im Finale leider noch einmal aufs Laufband.

Als Favorit gehandelt wird JJ aus Österreich. Der Countertenor sitzt auf einem Floß aus Büchern, Koffern und Umzugskartons und trotzt mit extrem hohem Operngesang einem Sturm. Beeindruckend, aber speziell. Hat sich ebenfalls ins Finale gerettet.

Griechenland setzt mit Klavdia auf die beliebte ESC-Strategie: Death by Drama. Die Sängerin mit der sehr auffälligen Brille, die ihr später kurz Moderatorin Sandra Studder stibitzt, trotzt auf einem Brandungsfelsen einem Flammenmeer, während im Hintergrund auf dem Bildschirm brennende Tauben flattern und ein Baum abfackelt. Behauptet mehr an Emotionalität, als wirklich da ist. Steht aber auch im Finale.

Bei der Griechin Klavdia wird es dramatisch.
Bei der Griechin Klavdia wird es dramatisch. (Foto: Harold Cunningham/Getty Images)

Der Überraschungserfolg des Abends sind die Litauer Katarsis. Die Band spielt so eine Art Post-Rock, der sich wenig um so etwas wie Songstrukturen schert und schon in Richtung Metal geht. Keine Ahnung, wie die es zum ESC geschafft haben, sie scheinen aber für viele Zuschauer eine willkommene Abwechslung gewesen zu sein. Stehen verdient im Finale.

Obwohl Miriana Conte aus Malta ihren Song von „Kant“ in „Serving“ umbenennen musste, hat das am Gesamtbild wenig geändert. Die Sängerin steigt aus einer riesigen Discokugel in einem offenen Mund und lässt keinerlei Zweifel, worum es in ihrem Song geht. Funktioniert beim ESC natürlich super und ist im Finale.

Mariam Shengelia hat nicht nur beeindruckende georgische Tänzer dabei, sondern versucht auch, so etwas wie eine geheimnisvolle Stimmung zu erzeugen. Wagt sonst kaum jemand beim ESC. Hat auch nicht so richtig funktioniert und schafft es nicht ins Finale.

Sissal singt für Dänemark über „Hallucination“. Ein Song, der gefühlt nur aus Refrain besteht und nach dem Ende sofort wieder vergessen ist. Ist seltsamerweise im Finale.

Ähnlich nichtssagend ist der tschechische Beitrag von Adonxs. Viele Stimmungswechsel, aber insgesamt ist der Auftritt völlig austauschbar. Rausgeflogen.

Laura Thorn tritt für Luxemburg an. Bei dem Auftritt sitzt jedes Detail.
Laura Thorn tritt für Luxemburg an. Bei dem Auftritt sitzt jedes Detail. (Foto: Harold Cunningham/Getty Images)

Für Luxemburg tanzt und singt Laura Thorn erst im rosa Kleidchen in einem Puppenhaus, um später im Strasskleid durch die Trümmer zu schunkeln. Metapher aufs Erwachsenwerden? Vielleicht. Macht Spaß und der Refraineinsatz sitzt auch. Im Finale dabei.

Auftritt Israel. Plötzlich steht da, wo gerade noch eine Puppenstube war, die Weltpolitik auf der Bühne, auch wenn es keiner der Beteiligten so richtig will. Yuval Raphael, die Überlebende des Hamas-Massakers, singt auf Englisch und Französisch. „Everyone cries / Don’t cry alone“. Jeder weint, weine nicht allein. Das Leise und das Laute liegen hier ganz nah beisammen. Anders als bei der Probe soll es keine Zwischenrufe oder Pfiffe gegeben haben. Nur zwei, drei einsame Palästina-Fahnen haben es laut den Fernsehbildern in die Halle geschafft. (Journalisten dürfen nur zur ersten Generalprobe in die Halle, nicht zu den eigentlichen Finalen, deshalb lässt sich das nicht ganz sicher sagen.) Ist ebenfalls im Finale.

Verlief offenbar störungsfrei: der Auftritt von Yuval Raphael für Israel.
Verlief offenbar störungsfrei: der Auftritt von Yuval Raphael für Israel. (Foto: Jens Büttner/dpa)

Serbien hat es danach schwer. Princ setzt auf Bewährtes: die Schmachtballade. Auf der Leinwand geht ein Auge auf und der Sänger lässt sich von seinen Tänzern über die Bühne schleifen. Schräg, aber auf die schlechte Art. Hat es nicht geschafft.

Und dann kommt Erika. Der Höhepunkt des Abends. Frau Vikman (der Name ist wohl echt) trägt Lack und Leder, reitet auf einem riesigen Mikrofonständer und schreit auf Deutsch „Ich komme“. Vielleicht genau die richtige Mischung aus explizit und angedeutet. Knallt und kommt super an. Am Samstag macht sie es natürlich nochmal.

Also alles gut am Ende? Kein Eklat? Keine Buhrufe? Dieser Abend war eine große Versöhnung für alle. Während die Publikumsabstimmung läuft, dürfen sogar noch ein paar Künstler auftreten, die ihren ESC 2020 wegen der Corona-Pandemie verpasst hatten. Die Schweiz feiert sich mit einem philosophisch angehauchten Tanz und Text über das Wesen der Zeit. Hazel Brugger versuchte mehrmals Kontakt mit dem Publikum aufzunehmen. Sandra Studer greift am Ende selbst noch zum Mikrofon, um den Rausschmeißer zu singen. Und kurz vor dem Ende sieht man dann noch, wie die Finnin Erika Vikman die Israelin Yuval Raphael in den Arm nimmt.

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