München: 7000 Besucher bei Oper für alle auf dem Marstallplatz – München | ABC-Z

Großveranstaltungen kosten Nerven. Links schimpfen die Radfahrer, weil sie nicht ungehindert über die Alfons-Goppel-Straße brettern können. Rechts mosern einige Besucherinnen, weil sie ihren Regenschirm abgeben müssen. Dennoch beglückt die Freilichtveranstaltung der Bayerischen Staatsoper auch in diesem Jahr im besten Moment etwa 7000 (werdende) Opern-Begeisterte auf dem Marstallplatz, trotz immer schaurigerem Wetter. Insgesamt sollen via Staatsoper.tv laut Sponsor BMW mehr als 40 000 Menschen auf der ganzen Welt dabei gewesen sein.
Denn klar ist, dass „Oper für alle“ längst nicht nur eine Möglichkeit ist, einmal gratis zum Publikum der Staatsoper zu gehören. Das Event beginnt lange, bevor Vladimir Jurowski den Taktstock zu Mozarts „Don Giovanni“ hebt. Am späten Nachmittag legt sich ein blumiger Duft über den Marstallplatz. Erste, mit Sommerdüften parfümierte Kleingruppen und Paare suchen sich einen Platz. Das sind die Kenner, oft in weiter Leinenkleidung. Sie wissen, dass sie vier Stunden auf dem Boden sitzen werden, da soll wenigstens das Kleid nicht zwicken.
Dicht an dicht legt man die mitgebrachten Picknickdecken. Klappstühle und hohe Luftmatratzen sind tabu, das hat sich herumgesprochen. Dass die Veranstaltung heuer vor dem Marstall und wegen der Umbauarbeiten nicht vor der Oper stattfindet, hat da einen entscheidenden Vorteil: Das klobige (dort inzwischen entfernte) Katzenkopfpflaster des Max-Joseph-Platzes vermisst niemand als Sitzuntergrund. Zumal die Oper knappe vier Stunden dauern soll.
Nur gut, dass die meisten auch kulinarisch vorgesorgt haben. Kaum ist ein Plätzchen ergattert, wird ausgepackt. Rohkost, Knabbereien, Brot und, ganz im Sinne des Opern-Protagonisten, Wein, der den Kopf wärmen soll. „Oper für alle“, das heißt: gemeinsamer Operngenuss ohne Förmlichkeiten, zusammen warten, bis es losgeht, und dabei vespern oder Seifenblasen pusten oder Karten spielen. Aber das ist nur eine Seite.

:Feminist und Macho in einer Person gibt’s nicht
Mozarts „Don Giovanni“ kennt zwei Extrempositionen von Männlichkeit. In München leuchten Dirigent Vladimir Jurowski und ein exzellentes Sängerteam deren Abgründe und Unvereinbarkeit meisterlich aus.
Während es auf dem Marstallplatz gemütlich wird, geht auf der anderen Seite der Oper das Schaulaufen los. Der rote Teppich ist ausgerollt und lädt zum Schnappschuss ein. Heino Ferch lässt sich ein dünnes Lächeln abringen. Michaela May und ihr Mann Bernd Schadewald wirken da schon freudiger. Florian David Fitz posiert vor einem Sportwagen für die Kameras. Und für Wayne Carpendale war der Oper-für-alle-Abend gar (ein) Grund, den familiären Ibiza-Urlaub zu verkürzen. Er hat es noch pünktlich geschafft, obwohl wegen des Sport-Scheck-Runs auf der Leopoldstraße kein Durchkommen ist: „Ich bin aus dem Auto gesprungen und dann mit dem Roller hergefahren“, sagt er im Gespräch mit Steve Gätjen.

Gätjen ist ein versierter Moderator. Zwar begleitet er als ProSieben-Gesicht sonst eher andere Events (Turmspringen, Jump and Run-Aktivitäten mit Joko und Klaas), aber er hat seit vergangenem Jahr auch Opernerfahrung. Konzentriert, wie ein etwas lässigerer Kandidat im mündlichen Abitur, führt er durch den Abend, plaudert etwa mit Carpendale, Luise Kinseher und dem Staatsopern-Intendanten Serge Dorny. Der freut sich, dass so viele Leute der Einladung gefolgt sind und damit solch eine vielfältige Abend-Gemeinschaft entstanden ist.

Da hat er nicht unrecht. In jeder Hinsicht ist das Oper-für-alle-Publikum diverser als sonst im Nationaltheater, vor allem jünger. Besonders die Kurzentschlossenen senken den Altersschnitt. „Donna Elvira war lowkey meine Lieblingsfigur“ hört man im Foyer der Staatsoper eher nicht, auf dem Weg von „Oper für alle“ zur U-Bahn dagegen schon.
„Endlich!“, seufzt jemand im Publikum: Dirigent Vladimir Jurowski gibt den Einsatz zur Ouvertüre. Man sieht es auf 70 Quadratmetern LED-Wand. Man hört es aus 46 Lautsprechern. Die technische Ausstattung ist beeindruckend und verfehlt nicht ihre Wirkung. Durch die hohe Anzahl an Lautsprechern hat die Akustik eine immersive Qualität und bis in die letzten Reihen ist das Operngeschehen sichtbar. Das ist auch nötig, denn inzwischen hat sich der Marstallplatz gut gefüllt. Verloren stehen Nachzügler am Rand und versuchen, irgendwo noch eine Lücke zu entdecken. „Hier ist noch frei, oder?“, hört man parallel zu den Klagen Leporellos.

„Don Giovanni“ auf den Plan fürs Open-Air-Spektakel zu setzen, war eine gute Idee. Die Oper hat Witz, Drama, Erotik und bietet einen Hit nach dem anderen. Wenn Kyle Ketelsen Leporellos Katalog-Arie über die bisherigen Eroberungen seines Herrn Don Giovanni trällert, schauen sich Paare vielsagend an, zu den erstaunlich witzigen Übertiteln schmunzelt man. Eine Kostprobe: „Auch Ältere finden in die Liste, dann rappelt’s in der Kiste.“
Zudem hat es das fabelhafte Ensemble der Produktion nicht schwer, sich in die Herzen der Zuhörenden zu singen. Vera-Lotte Boecker als Donna Anna, Samantha Hankey als Donna Elvira und Avery Amereau als Zerlina bekommen draußen wie drinnen Szenenapplaus. Und Konstantin Krimmel – der seit der Premiere des Stücks im Juni die Rolle noch souveräner, extrovertierter spielt – beglückt vokal und optisch, das versteht sich beinahe von selbst.

So werden die ersten Regentropfen auch beharrlich ignoriert. Man sei ja nicht aus Zucker, heißt es da noch. Doch als es sich gegen Mitte des ersten Aktes sachte einregnet, werden die roten Capes ausgepackt. Vor der Pause schimmert der Marstallplatz in Regenponcho-Rot. Doch mit zunehmender Kühle reduziert sich die Zuhörerschaft. Am Ende sind es ein paar Dutzend, die sich noch freuen dürfen. Verschwitzt, aber glücklich präsentiert sich das Ensemble auf dem Marstallplatz und nimmt den umso enthusiastischeren Jubel der tapferen Nassen entgegen. Sie werden auch nächstes Jahr da sein, zu Wind und Wetter bei Wagners „Walküre“.