Politik

Schrumpfende Meinungsfreiheit?: J.D. Vance‘ Deutschland-Schelte hat einen wahren Kern | ABC-Z

Der US-Vizepräsident schockt Europa. Angeblich haben wir demokratische Grundwerte vernachlässigt! Bei aller Kritik an seinen Moptiven: Hat J. D. Vance vielleicht recht? Zumindest ein bisschen?

Vielleicht zerbricht gerade, praktisch Stunden vor der Bundestagswahl, der Westen. Vor allem Reden des US-Vizepräsidenten J.D. Vance schockieren das Land. Was Vance sagt, lautet kurz gesagt: Ihr habt die Meinungsfreiheit verraten, dann müssen wir auch nicht für Euch im Krieg sterben.

Haben wir mit Meinungsfreiheit wirklich ein Problem? Es sieht ziemlich danach aus: In den letzten Jahren standen, wann immer es um dieses Thema geht, „Hass und Hetze“ und „Desinformation“ im Zentrum. Jede Studie, die kundgab, Menschen in Deutschland trauten sich nicht mehr zu sagen, was sie denken, führte zu amüsiertem Achselzucken. Die veröffentlichte Meinung hat den kritischen Blick auf die Regulierung von Facebook, Twitter und Co. praktisch widerstandslos der AfD überlassen. Es ist ein Vollversagen aller anderen Parteien und deshalb kann J.D. Vance da drauf dreschen.

Die Zivilgesellschaft war ebenfalls blank, sie hat sich bei der Politik untergehakt: Eine wahre „Hass und Hetze“-Industrie ist aufblüht, mal mit und mal ohne finanzielle Förderung aus Bundesministerien. Eine kaum überblickbare Zahl von Vereinen und Stiftungen arbeitet sich am Thema „Hass und Hetze“ ab, in letzter Zeit vermehrt auch am Thema „Desinformation“. Kritische Blicke auf staatliche Regulierung gibt es kaum – für Freiheit gibt es eben keine Förderung.

Wie ein AfD-Aufkleber auf der Brust

Dass weder Hass noch Hetze und auch Desinformation nicht verbindlich definiert sind, sei hier nur am Rande erwähnt. Allerdings hat das allseitige Trommelfeuer zu einem politischen Klima geführt, in dem Kritik an Einschränkungen der Meinungsfreiheit gleichbedeutend ist mit einem AfD-Aufkleber auf der Brust. Im Parteienspektrum gibt es praktisch keinen politischen Widerstand gegen immer neue Forderungen der Kriminalisierung, des Blockierens und des Meldens.

Um den Sturm perfekt zu machen, veröffentlichte in dieser Woche die amerikanische Sendung „60 Seconds“ eine kleine Dokumentation über das Verhältnis der Deutschen zur Meinungsfreiheit. Unfreiwillige Stars dieser Sendung sind drei Staatsanwälte aus Göttingen, die feixend berichten, wie schockiert „Hass und Hetze“-Täter reagieren, wenn sie ihnen das Handy wegnehmen, und zwar dauerhaft. Diese Doku kennt man inzwischen vermutlich überall auf dem Globus, es ist kein schöner Anblick.

Die Doku spitzt freilich zu, sie vermittelt einen schlechten Eindruck vom Staate Deutschland. Doch dieser deckt sich mit der jüngeren Rechtsgeschichte. Im Grunde hat es in den letzten etwa 30 Jahren meines Wissens praktisch kein einziges Gesetz gegeben, dass die Meinungsfreiheit stärkt, dafür aber etliche, die sie einschränken. Gut: Nach dem Erdogan-Gedicht von Jan Böhmermann hat man die Beleidigung ausländischer Präsidenten legalisiert und es gab eine kleine Korrektur im Pornografiestrafrecht. Außerdem steht das Computerspiel Doom nicht mehr auf dem Index. Das war es aber auch.

Dann ist mit Freiheit Schluss

Die Grundtendenz ist: Weniger Freiheit wagen. Als etwa der SPD-Justizminister Heiko Maas das „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“ vorschlägt, hagelt es in der Fachwelt zwar Kritik. Aber wen interessiert, was ein paar Juristen meinen, wenn die politische Mehrheit das Projekt mitträgt? Die Grünen sind begeistert, linke Teile dieser Partei wünschen sich sogar ein Vorgehen gegen „schädliche“ Sprache, nicht nur gegen Straftaten. Die Idee: Einschränkungen der Meinungsfreiheit sind eigentlich freiheitlich, denn dadurch können andere zu Wort kommen. Es ist eine Pervertierung dessen, was Grundrechte bezwecken sollen.

Die Union ist in diesem Chor auch dabei, obwohl sie ideologisch aus einer anderen Ecke kommt. Sie fremdelt seit jeher mit dem Internet und seiner Unkontrollierbarkeit. „Wenn das Netz weiter lügt, ist mit Freiheit Schluss“, schreibt Volker Kauder im Jahr 2016, als handele es sich um ein experimentelles Jugendzentrum und nicht den Kommunikationsraum von Milliarden Menschen.

Da wir womöglich auf eine Neuauflage der Großen Koalition zulaufen, sei erinnert: Die Große Koalition war es, die zuletzt den Beleidigungstatbestand verschärft hat. Seither wird härter bestraft, wer einen Politiker beleidigt – eine moderne Form der Majestätsbeleidigung. Diese neue Rechtslage nutzen rote, grüne, aber auch liberale Politiker mit größter Begeisterung. Im industriellen Ausmaß lassen sie mit Hilfe spezieller Anbieter Anzeigen auf den Weg bringen. Die eifrigen Staatsanwaltschaften, die bewaffnet durch die Wohnungen wütender Internetnutzer stapfen wollen, bekommen dadurch neue Ansatzpunkte.

Ja, wir fremdeln mit der Meinungsfreiheit

Reale Gewalt gegen Politiker verstärkt diesen Trend der Internetregulierung. Angriffe auf Kommunalpolitiker, den Attentäter von Halle, der seine Taten live ins Netz übertrug, und die Ermordung Walter Lübckes tun ihr übriges, damit Kritiker des freiheitlichen Kurses eher leise auftreten. So rührt sich nahezu niemand, als die EU sich anschickt, ein Horrorgesetz zur Internetregulierung auf den Weg zu bringen, ein Netzwerkdurchsetzungsgesetz auf Steroiden: das gewaltige Digitale Dienste Gesetz, kurz DSA.

Obwohl im DSA tiefgreifende Notfallbefugnisse für die Kommission vorgesehen sind, mit denen der Algorithmus gelenkt oder womöglich ganze Plattformen ausgeknipst werden können, obwohl dies Befugnisse sind, die man auf deutscher Ebene vermutlich nie irgendeinem Ministerium übertragen dürfte, obwohl das Gesetz „Desinformation“ regelt und das Kunststück fertigbringt, „Desinformation“ nicht zu definieren, obwohl das Gesetz dem Staat ermöglicht, ein Netz aus undurchsichtigen Meldestellen („Trusted Flagger“) aufzuspannen, obwohl es so tief in die Meinungsfreiheit schneidet wie seit 70 Jahren kein Gesetz in der EU – regt sich nirgends politische Kritik. Die Fachwelt murrt, das war’s.

Also, Fazit: Ja, Deutschland und auch Europa fremdeln mit der Meinungsfreiheit. Das gilt, auch wenn die rechtlichen Einschränkungen sich oft vermengen mit dem bloßen Gefühl, man dürfe in Deutschland „nichts mehr sagen“ – ob nun das N-Wort, das I-Wort, das Z-Wort oder die Tagesschau-Anrede „Meine Damen und Herren“. Das eine Problem hat mit dem anderen allenfalls eine woke-ideologische Wurzel gemein, aber auf der Wahrnehmungsebene verlaufen sich die Unterschiede – und schaffen den Morast aus Frust und Wut, an dem sich die Neue Rechte jetzt bedienen kann.

Ist der Westen kaputt?

Wir haben über viele Jahre die Meinungsfreiheit verraten, immer wieder und in kleinen Schritten. Damit haben wir Groll erzeugt und eine offene politische Flanke: Diese Verwundbarkeit hat J.D. Vance ausgenutzt. Vance dürfte es dabei weniger um Meinungsfreiheit in Europa gehen, als darum, einen autoritären, russlandfreundlichen Politikwechsel zu begründen. Einen Punkt hat er dennoch.

Ob der Westen als Idee endgültig kaputt ist, wird sich auch daran zeigen, welchen Kurs Europa jetzt nimmt. Der Bruch des Westens ist für manche offenbar ein Aufbruchsignal in ein staatsfreudiges Europa: Grünen-Kanzlerkandidat Robert Habeck fantasiert von einer europäischen Alternative zu X. Für ihn und andere linke Politiker muss der Staat die Meinungsfreiheit verleihen, durch Schutzmaßnahmen in einem umzäunten Habitat für Internetnutzer. Es ist nicht die erste Idee dieser Art und leider vermutlich auch nicht die letzte.

Man muss es ganz deutlich sagen: Ein EU-Twitter oder EU-Instagram hat nur in einem einzigen Szenario Aussicht auf Erfolg: Nämlich dann, wenn die EU-Kommission den Zugang zu amerikanischen Diensten sperrt, mit Hilfe des Digital Services Act, die Freiheit also komplett aufgegeben wird. Dann würden wir die Freiheit den Amerikanern überlassen.

Und der Westen wäre wirklich Geschichte.

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