Morrissey im Tempodrom: Ach Du armer, armer Popstar | ABC-Z

Konzert | Morrissey im Tempodrom
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Ach Du armer, armer Popstar
Sa 28.06.25 | 12:58 Uhr | Von
Morrissey polarisiert. Ein genialer Künstler. Aber exzentrisch. Oft rüde. Manchmal politisch am rechten Rand taumelnd. Immer in der Opferrolle. Immer unberechenbar. Sein Konzert im Tempodrom geriet allerdings erstaunlich solide, meint Hendrik Schröder.
Punkt 20 Uhr geht das Licht aus im ausverkauften Tempodrom und es laufen erst mal über eine halbe Stunde lang alte, ausgewaschene Musikvideos. Zum Beispiel von den Stooges oder von Sigue Sigue Sputnik oder den New York Dolls. Das ist anfangs ganz witzig und gibt den vielen Männern in Morrissey- und The-Smiths-T-Shirts im Saal noch mehr Zeit, um weiter darüber zu fachsimpeln, ob er heute wohl 90 Minuten spielen wird oder 75 oder 85? Oder sogar bis 23 Uhr, sagt einer. Habe er gehört.
Aufgeregt sind sie alle. Denn ob Morrissey wirklich auftritt, ist ja auch nicht immer sicher. Die beiden Stockholm-Konzerte am Anfang der Woche hatte er abgesagt. “Zu viel Stress, zu wenig Unterstützung von Radiosendern und Plattenbossen”, schrieb er zur Begründung. Letzteres ist sein Dauerthema. Immer ist er das Opfer finsterer Mächte der Plattenindustrie. Über 100 Konzerte hat Morrissey seit 2015 abgesagt. Das ist wahrscheinlich Rekord.
Mit Gladiolen wedeln
Irgendwann nerven dann die Videos und man fragt sich, wo er denn bleibt und was das soll. Die Leute fangen an zu pfeifen. Aber dann kommt er, dann geht es los. Im schwarzen Anzug, schwarzes Hemd, graue Haare. Ein paar Gladiolen hat er in der Hand, wedelt damit wild herum (einer seiner running Gags). Die Fans sind außer sich, vergessen ist die Wartezeit.
“Shoplifters of the world unite”, ein Lied seiner alten Band The Smiths, ist der erste Track. The Smiths hatten in den 1980ern vier wegweisende Platten gemacht, bevor sie sich auflösten. Vier Platten, die bis heute als elementar für quasi alle Spielarten der Gitarrenmusik gelten und auf die sich Morrisseys Ruhm und sein Legendenstatus gründen.
Fast keiner kennt die neuen Songs
Eine Handvoll der Smiths-Songs spielt er immer noch (An diesem Abend zum Beispiel “How soon is now” oder “I know it´s over”.) Und das sind die Momente, in denen die Mienen der Fans leuchten, die Bierbecher nach oben gerissen werden, Augenpaare sich finden und alle denken: “geil”. Weil sie diese Songs schon ein Leben lang begleiten.
Auch die früheren Morrissey-Solostücke wie “You´re the one for me, fatty” oder “Everyday is like Sunday” werden gefeiert. Aber für seine neueren Stücke interessieren sich die wenigsten Zuschauer, die warten sie eher ab. Über ein Dutzend Soloalben hat Morrissey seit den Smiths gemacht. Nur ganz wenige Die-Hard-Fans kennen alle seine Stücke.
Vielleicht ist es das, was so an ihm nagt und ihn als so dauergekränkt rüberkommen lässt? Warum sonst diese ständigen Beschwerden darüber, dass er nicht genug gewürdigt werden würde? Obwohl er ja ständig vor tausenden von Leuten auftritt und in allen Zeitungen steht.
Auch in Berlin an diesem Abend sagt er: “Leute, ich war gestern bei Dussmann, dem riesigen Kulturladen hier bei euch, da gab es so viel Musik zu kaufen, nur meine nicht. Manche Dinge ändern sich eben nie.” Ach Du armer, armer Popstar: Heul doch, möchte man rufen! “But we love you”, ruft stattdessen eine Zuschauerin. Das scheint der bessere Spruch zu sein. Weiter gehts.
Hervorragend bei Stimme
Das Interessante bei Morrissey ist, dass man nie so genau weiß, was er als nächstes macht. Abschnittweise wirkt er total gelangweilt und kaut die Songs so herunter. Legt sich sein Halstuch auf den Kopf. Ruft ins Publikum: “Ihr müsst nicht lachen, ich bin da nicht empfindlich.” Hatte wohl niemand gemerkt, dass er einen Witz gemacht hatte. Wobei er bei alldem immer noch ganz hervorragend bei Stimme ist und ausnahmslos jeden Song sehr gut singt.
Und auch seine Band um die begnadete Gitarristin Carmen Vandenberg spielt zackig, willig, abgebrüht. Von Müdigkeit, wie sie zwischenzeitig im Tourtross geherrscht haben soll, keine Spur. Aber sowas wie Feuer, Fieber, Verve kommt auch nur selten auf. Solide ist der Auftritt, könnte man sagen. Wobei solide als Urteil über seine Performance für Morrissey wahrscheinlich kurz vor Majestätsbeleidigung rangiert.
Am Ende ganz amüsant
Zu den zwei Zugaben kommt Morrissey mit einer Berlin-Flagge um die Hüften geknotet wieder auf die Bühne. “Kümmert euch um euer Land, kümmert euch um eure Sprache” ruft er den Leuten zu. Und kurz zuckt man: …bitte red jetzt nicht wieder so einen Vollschwachsinn wie “Berlin ist Vergewaltigungshauptstadt, seitdem Merkel die Geflüchteten reingelassen hat”. Hat er ja alles mal so ähnlich gesagt.
Autor und Werk zu trennen: Bei Morrissey unbedingt nötig, aber immer schwerer. Zum Glück belässt er es bei den paar kryptischen Sätzen. Puhh. Dann kann man den Abend ja in ganz amüsanter Erinnerung behalten.