Moralischer Charakter: Alle finden sich gut – Wissen | ABC-Z

Dieser Text beginnt mit einer Binsenweisheit: In Gefängnissen verbüßen Menschen Strafen, weil sie gegen das Recht verstoßen haben. So weit, so einfach. Aber macht eine Straftat einen Häftling zu einem grundsätzlich bösen Charakter? Das ist schwer zu sagen, vermutlich müssten Philosophen diskutieren, wie viele Taten von welcher Qualität notwendig sind, um einen Menschen als per se böse zu bezeichnen. Wer die Frage nach dem moralischen Charakter jedoch an Straftäter selbst richtet und um Auskunft über deren Selbstbild bittet, wie dies Psychologen für mehrere Studien gemacht haben, erhält deutliche und überraschende Antworten.
Laut Befragungen von Straftätern aus Großbritannien zum Beispiel, darunter Gewalt- und Sexualstraftäter sowie Einbrecher, betrachten sich diese meist als weitgehend anständige Menschen. Die Sträflinge gaben sogar zu Protokoll, dass sie netter, kontrollierter, großzügiger, ehrlicher, vertrauenswürdiger und moralischer seien als der Durchschnitt der Bevölkerung.
Allerdings erwiesen sich die befragten Straftäter aus den erwähnten Studien mit ihrer Haltung als ziemlich durchschnittliche Menschen: Selbsterkenntnis ist insbesondere dann eine schwierige, trügerische Angelegenheit, wenn es um die Moral geht. Gerade in dieser Domäne sind die inneren Anreize enorm, sich selbst durch einen gnädigen Weichzeichner zu betrachten und zu bewerten, wie Isabel Thielmann und Matthias Burghart vom Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht in Freiburg in einem Überblicksartikel im Fachjournal Current Opinion in Psychology darlegen. Im Menschen schlummert eben der dringende Wunsch, ein Guter zu sein – und entsprechend verzerrt fällt die Einschätzung des moralischen Ichs aus.
Bescheiden und ehrlich sind irgendwie alle
„Im Schnitt können sich Menschen selbst schon ganz gut einschätzen“, sagt Burghart. Zumindest sei das der Fall, wenn es um Fähigkeiten gehe, um Persönlichkeitsmerkmale, um Intelligenz oder ihr Äußeres. In Fragen ihres individuellen moralischen Charakters liegen Menschen im Schnitt jedoch oft weit daneben, so Burghart. Warum trübt der Blick ausgerechnet dort ein, wo es um Fragen von richtig und falsch, gut oder schlecht geht, also um wesentliche Dinge? „Weil der moralische Charakter einer Person besonders relevant für das Selbstbild ist“, sagt Thielmann. „Und so gut wie niemand hält sich selbst gerne für einen schlechten Menschen.“
Natürlich könne es auch sein, dass Personen schlicht die Einsicht oder das Wissen über eigene Charakterzüge fehlt. Solche blinden Flecken dürften ebenfalls dann besonders ausgeprägt sein, wenn die fraglichen Eigenschaften erstens sozial erwünscht und sich zweitens in Verhalten äußern, das besonders für Dritte offensichtlich wird. „Zum Beispiel ist Fairness eine Eigenschaft, die sozial erwünscht und zugleich beobachtbar ist“, schreiben Thielmann und Burghart in Current Opinion in Psychology. Auch Studien legen nahe, dass Beobachter in diesem Fall besondere Einsichten über andere haben, die diesen Personen selbst oft fehlen – was dann zu übertrieben positiven Selbsteinschätzungen beitragen kann. Besonders ins Gute verzerrt, so legt eine Publikation nahe, scheinen Selbstbewertungen in Sachen Bescheidenheit und Ehrlichkeit zu sein: Dafür vergeben Probanden gerne besonders gute Zensuren an sich selbst.
Sich selbst als guten Menschen zu betrachten, salbt nicht nur das eigene Ich. „Auch eine Reputation als moralische Person ist wichtig“, sagt Thielmann. Von anderen als gut angesehen zu werden, verschafft Status sowie Anerkennung. Und ein wesentlicher Schritt, andere von seinem vermeintlich wertvollen Charakter zu überzeugen, ist, sich selbst als moralischer Mensch zu gefallen. Überspitzt formuliert: Wer sich selber glaubt, ist der bessere Lügner. Und sich selbst zum Beispiel Verfehlungen kleinzureden – damit zurück in die Gefängnisse vom Beginn dieses Textes –, stellt für die meisten Menschen kein Problem dar. „Unmoralische Verhaltensweisen werden dann zum Beispiel mit dem Kontext gerechtfertigt, in dem sie stattgefunden haben“, sagt Thielmann. Die Situation habe gar nichts anderes zugelassen, man habe sich ja redlich bemüht, und außerdem sind die anderen und deren Taten ja viel schlimmer. Und dann richtet sich die Aufmerksamkeit weg von Verfehlungen hin zu den Momenten, in denen man tatsächlich Gutes getan hat. Damit lässt sich dann das moralische Selbst scheinbar bestätigen.
Warum etwas ändern, wenn alles gut ist?
Allerdings – das sei an dieser Stelle auch angemerkt – ganz einfach lässt sich der moralische Charakter einer Person nicht immer bestimmen. Schließlich zeigt sich nicht jede moralisch relevante Charakterdimension in offensichtlichem Verhalten. Methodisch ist die Vermessung des Heiligenscheins eines Menschen also mit gewissen Unsicherheiten verknüpft. „Meistens werden Probanden um ihre Selbsteinschätzung gebeten“, sagt Burghart, „und dann füllen andere Teilnehmer, die die betreffenden Leute kennen, die gleichen Fragebögen aus.“ Ob aus der Differenz von Selbst- und Fremdeinschätzung stets ein klarer und belastbarer Wert herauskommt? Ob die Informationen ausreichen, die einem Beobachter für ein Urteil zur Verfügung stehen? Fraglich.
Wenn Menschen ihren moralischen Charakter nicht besonders gut einschätzen können, sei das durchaus tragisch, argumentieren Thielmann und Burghart, schließlich sei Selbsteinsicht Voraussetzung dafür, sich zum Besseren zu ändern. Aber auch in Sachen Selbstoptimierung spiele die Moral eine eher untergeordnete Rolle, so Thielmann und Burghart. Die meisten Menschen setzen sich eher andere Ziele – solche, die mit Karriere, Erfolg und anderen Dingen zu tun haben. „Moralische Ziele für sich selbst formulieren sie hingegen sehr selten“, sagt Thielmann. Warum auch, wenn man sich ohnehin schon für einen Guten hält? Wenn der Heiligenschein der eigenen Überzeugung nach sitzt, strahlt und glänzt, dann fehlt auch die Motivation, diesen hin und wieder mal abzunehmen, ihn kritisch zu betrachten und gegebenenfalls zu polieren.