Momo: Radost Bokel spricht über den Filmdreh vor 40 Jahren | ABC-Z

Ein Zug rattert durch die Dämmerung. In einem Abteil sitzt ein Mann – graue Haare, große Brille – und liest Zeitung. Plötzlich sitzt ihm ein Fremder gegenüber und fragt: „Erlauben Sie mir, dass ich Ihnen eine Geschichte erzähle?“ So beginnt der Film „Momo“ (1986), und der Mann mit der Zeitung ist „Momo“-Autor Michael Ende höchstpersönlich. Ein Waisenkind rettet die Welt vor den grauen Herren, die sich auf Zeit verstehen, „so wie Blutegel sich aufs Blut verstehen“, und den Menschen einreden, sie müssten jede Sekunde effizient nutzen. Momos Waffe gegen die grauen Herren ist auch ihre Gabe des Zuhörens. Sie schenkt den Menschen Zeit, indem sie sie erzählen lässt. „Geh doch zu Momo“, heißt es, wenn jemand Rat sucht.
Fast vier Jahrzehnte später klingt dieser Satz wie eine dringende Empfehlung. Denn die Geschichte hat nichts an Brisanz verloren. Im Gegenteil. Die Welt ist noch viel atemloser als 1986, die Zeitdiebe heißen heute Smartphone oder Tablet. Doch zu Momo können wir nicht gehen – sie ist fiktiv. Wer vielleicht weiterhelfen kann, ist Schauspielerin Radost Bokel (50). Sie lieh der Figur einst ihr Gesicht und verkörperte die Rolle so authentisch, dass Michael Ende – wie Margarete von Schwarzkopf im „Filmbuch Momo“ festhält – überzeugt war: „Ich muss Radost Bokel im Kopf gehabt haben, als ich meine Momo erfand.“
Frau Bokel, Michael Ende hatte ein ganz bestimmtes Bild von Momo vor Augen. Regisseur Johannes Schaaf und Schauspielerin Rosemarie Fendel, die am Drehbuch mitschrieb, suchten die Idealbesetzung. Wie sind Sie als Neunjährige überhaupt beim Casting in Frankfurt gelandet?
Meine Mutter hatte den Castingaufruf in der „Bild“-Zeitung gelesen: Gesucht wurde ein Mädchen mit großen Kulleraugen und Wuschelhaaren. Und da wir in Frankfurt wohnten, schickten wir ein Foto hin. Kurz darauf kamen die Drehbuchseiten per Post, und ich sollte sie auswendig lernen. Beim Casting waren wir dann sehr eingeschüchtert: Wir stammten aus der DDR, meine Mutter hatte es 1980 durch Tricksen geschafft, mit uns auszureisen. Über Umwege ist sie damals mit zwei Kindern und zwei Koffern in Frankfurt gelandet. Und nun saßen beim Casting all die Mütter mit Kindern aus „besserem Hause“. Die hatten schon alles Mögliche gemacht – Ballett hier, Theater da. Ich hatte das alles nicht, abgesehen von ein paar Auftritten in Altersheimen, die der Hort organisiert hatte. Aber da meine Mutter an dem Tag Geburtstag hatte, kamen wir als Erste dran. Ich sollte die Szene spielen, in der einer der grauen Herren Momo mit einer Puppe bestechen will. Doch das ging schief: Ich habe es nicht hinbekommen, Angst zu spielen. Ich musste immer wieder losprusten und konnte nicht ernst bleiben.
Trotzdem haben Sie sich gegen 2000 andere Mädchen durchgesetzt. Wie hat das geklappt?
Das war wahrscheinlich weniger mein Zutun als die Tatsache, dass meine Art einfach so gut gepasst hat. Ich war Momo. Ich habe keine Rolle gespielt oder besonders toll geschauspielert, ich war einfach ich selbst. Eigentlich hatten sie sogar schon eine Momo-Darstellerin gefunden, aber Michael Ende war nicht zufrieden. Weil er mit der Verfilmung der „Unendlichen Geschichte“ nicht glücklich war, hatte er bei „Momo“ auf mehr Mitspracherecht bestanden. Als er meine Castingaufnahmen sah, sagte er wohl sofort: „Das ist meine Momo.“
Im September 1985 ging es dann für dreieinhalb Monate zum Dreh in die Studios von Cinecittà bei Rom. Erst im Flugzeug haben Sie erfahren, dass der Film auf Englisch gedreht wird, eine Sprache, die Sie damals gerade erst zu lernen angefangen hatten. War das ein Schock?
Nö. Das hat mich nicht gestört. Ich bin erst im Alter jemand geworden, der sich Sorgen macht.
In dem Film haben auch viele italienische Schauspielerinnen und Schauspieler mitgespielt. War die Sprachbarriere am Set denn gar kein Hindernis?
Gar nicht, nie. Ich habe Sprachen und Worte schon immer geliebt. Mein Hobby war es damals sogar, rückwärts zu sprechen. Das habe ich zwar irgendwann gelassen, aber es war bestimmt ein gutes Training. Deswegen hat mir der Dreh auf Englisch nichts ausgemacht. Man muss sich das mal vorstellen: Ich war ja erst zehn Jahre alt und habe mir vor Ort dann auch noch auf eigene Faust Italienisch beigebracht.
Ist Ihnen das Schauspielen vor laufender Kamera leichtgefallen?
Ich hatte das große Glück, dass Rosemarie Fendel beim Dreh dabei war. Sie war mein Coach, meine Mentorin. Oft hat sie mir reingerufen, was ich in einer bestimmten Szene denken oder fühlen sollte – wofür sie am Set zum Teil sogar Ärger bekam. Ein paar Tage vor Drehbeginn waren wir zusammen am Strand spazieren und fanden Fische, die im Sand lagen. Die Fische taten uns leid und wir warfen sie ins Wasser zurück. Im selben Moment stürmte ein schreiender Italiener aus den Dünen, wild mit den Armen fuchtelnd, auf uns zu – wahrscheinlich hatte er die Fische gerade erst gefangen. Da bekamen wir Angst und rannten weg. Hinterher sagte Rosemarie zu mir: „Du hast doch jetzt gerade Angst gehabt, oder?“ Sie wusste ja, dass ich Probleme mit der Angst-Szene hatte. Ihr Rat war: „Nimm das Gefühl, das du jetzt hattest, und leg es in eine Art Schublade. Und wenn du dann den Dreh hast, dann machst du die Schublade auf und holst dieses Gefühl wieder raus.“
Das scheint geklappt zu haben – im Film sehen Sie an dieser Stelle ziemlich verängstigt aus. Stimmt es, dass Sylvester Groth, der in der Szene den grauen Herrn spielt, Sie dabei sogar versehentlich mit seiner Zigarre verbrannt hat?
Ja, das stimmt. Aber das hat mir in dem Moment tatsächlich geholfen. Ich konnte den Schmerz und die Angst für die Szene nutzen. Und am Ende ist sie ja wirklich grandios geworden. Sylvester Groth ist einer der krassesten Schauspieler, die ich je in meinem Leben kennengelernt habe.
Am Set haben Sie auch Michael Ende persönlich getroffen. Haben Sie ihn sofort erkannt?
Nein, ich kannte damals eigentlich niemanden, obwohl am Set so viele berühmte Leute waren. In dem Alter hat mich das nicht interessiert. Aber ich weiß noch, dass Michael Ende sehr „weich“ war. Das ist vielleicht ein seltsames Wort, um einen Mann zu beschreiben, aber er war so lieb und hatte eine unglaublich ruhige Ausstrahlung.
Für die Rolle als Momo haben Sie einige Preise bekommen, unter anderem den Bambi. Welche Reaktionen haben Sie im privaten Umfeld erlebt?
Das war ganz schlimm. Als Kind berühmt zu sein, zu der Zeit und noch dazu in Deutschland. Obwohl ich meine Heimat liebe, muss ich sagen: Es ist leider oft ein Land der Neider und Nichtgönner. Ich wurde damals gemobbt, jeden Tag auf dem Weg zur Schule in der Straßenbahn. Sogar von Lehrern kamen abfällige Bemerkungen. Auf dem Pausenhof fragten mich Kinder nach Autogrammen, was mir ganz unangenehm war. Und als ich ihnen dann widerwillig eins gab, zerrissen sie es vor meinen Augen über dem nächsten Mülleimer. Alle hielten mich für eingebildet oder von oben herab, dabei war ich das nie. Ich bin eigentlich schon immer ein ganz bodenständiger und zugänglicher Mensch. Aber ich habe mich so dafür geschämt, dass ich niemandem davon erzählt habe, nicht mal meiner Mutter. Irgendwann habe ich mich dann damit abgefunden. Es war ja meine ganze Kindheit so, auch nach anderen Filmen. Ich war immer noch Momo für alle – jahrelang.
Ihr Lebenslauf ist voller Kontraste. Sie haben in zahlreichen Filmen mitgespielt, an der Seite von Weltstars wie Ben Kingsley und Andie MacDowell, eine Hip-Hop-Single veröffentlicht und einige Jahre in den Vereinigten Staaten gelebt. Später folgten das „Dschungelcamp“, der „Playboy“ und – im selben Jahr – eine „Momo“-Lesetour. Waren das alles positive Erfahrungen?
Nein. Also, das mit dem Playboy, das bereue ich, muss ich sagen. Die Anfrage kam jahrelang immer wieder, und irgendwann habe ich dann halt Ja gesagt. Heute denke ich: Hättest du das mal lieber nicht gemacht. Ich bin eigentlich gar nicht der Typ dafür, ich bin eher privat und zeige mich ungern so.
Zuletzt standen Sie in dem Film „Hanau“ von Uwe Boll vor der Kamera und haben 2023 ein Kinderbuch geschrieben. Wie soll die Reise jetzt weitergehen?
Ich möchte jetzt wieder richtig durchstarten, mehr arbeiten und drehen. In den letzten Jahren war es mir sehr wichtig, für meinen Sohn da zu sein, denn ich bin ein absoluter Familienmensch. Das hat auch mit einem Rat zu tun, den mir Otto Waalkes zu „Momo“-Zeiten gab. Er riet mir, das alles nicht zu ernst zu nehmen, da Ruhm oberflächlich und vergänglich sei. „Heute heben dich die Leute in den Himmel, morgen jemand anderen“, sagte er. Das habe ich mir sehr zu Herzen genommen. Jetzt, wo mein Sohn langsam flügge wird, habe ich wieder mehr Zeit für neue Rollen.
In diesem Oktober kam ein neuer „Momo“-Film in die Kinos. Wie war Ihr Fazit?
Ich finde es toll, dass der Film gemacht wurde. Damit wurde das Interesse an „Momo“ noch mal neu geweckt. Für die neue Generation ist das wichtig, weil sie sich den alten Film vielleicht nicht mehr gerne angucken, weil er einfach zu alt ist. Ich glaube, „Momo“ ist auch deswegen immer noch so gefragt und so erfolgreich, weil das Thema immer aktueller wird.
Was ist diese sehr aktuelle Botschaft der Geschichte?
Dass wir uns nicht die Zeit stehlen lassen dürfen – auch nicht von uns selbst. Und dass wir das Leben im Hier und Jetzt genießen sollen, statt nur zu rennen, zu arbeiten und am eigentlichen Leben vorbeizuleben.
Wenn Sie mal Ihre „innere Momo“ befragen: Was würden Sie zu all dem sagen, und welchen Rat würden Sie uns heute geben?
Momo würde auf jeden Fall zu den Kindern gehen, nicht unbedingt zu den Erwachsenen. Und sie würde den Kindern sagen, dass sie die Smartphones doch mal weglegen und lieber draußen spielen sollen. Dass die Zeit mit Playstation und Smartphone einfach eingeschränkt werden sollte. Ich selbst bin natürlich auch Smartphone-Opfer, wie so viele. Aber wenn ich mit meiner Familie zusammensitze, dann lege ich es weg. Oft passe ich auf den Hund einer Freundin auf. Wenn ich mit ihm draußen spazieren bin, ist das Handy wirklich nur für Notfälle dabei. Und dann genieße ich die Zeit, die Umgebung und die Natur ganz bewusst.
Radost Bokel, 1975 geboren, kam als Fünfjährige aus Halle an der Saale mit ihrer Mutter nach Frankfurt. In einem Hort machte sie erste Erfahrungen mit der Schauspielerei und trat bei Aufführungen in Altersheimen auf – etwa als Mowgli im „Dschungelbuch“. 1986 wurde sie als Darstellerin in „Momo“ bekannt. Mit Klausjürgen Wussow und Hannelore Elsner spielte sie kurz darauf in der Kinoverfilmung von Johannes Mario Simmels Roman „Bitte laßt die Blumen leben“, für die Abenteuerserie „Das Geheimnis der Sahara“ drehte sie 1987 mit Ben Kingsley in Marokko. Später hatte sie Rollen in Serien wie „Tatort“, „Der Fahnder“ und „Der Staatsanwalt“ und arbeitete als Sprecherin. Bokel war mit dem amerikanischen Sänger Tyler Woods verheiratet und lebte eine Zeit lang in North Carolina. Nach der Trennung des Paars kehrte sie 2015 mit ihrem Sohn nach Deutschland zurück. Heute lebt sie in Rodgau.





















