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Modelabel gegen Einsamkeit im Alter: Senioren nähen Kinderkleidung | ABC-Z

Die Maxvorstadt hat die jüngste Bevölkerung Münchens; 38,6 Jahre betrug das Durchschnittsalter hier 2023. Das schlägt sich auch im Gastronomie- und Shoppingangebot nieder: Viele traditionelle Lokale und Geschäfte weichen Filialen großer Ketten, Concept-Stores und spezieller Gastronomie. Grundsätzlich gut, findet Julia Seiss. Die Fünfunddreißigjährige lebt seit acht Jahren in der Maxvorstadt. Dort beobachtet sie aber auch: Je mehr neue Konzepte die Straßen säumen, desto weniger Anlaufpunkte gibt es für Ältere: „Mein 87 Jahre alter Nachbar setzt sich nicht in ein veganes Frühstückscafé“, sagt Seiss. „Das ist nicht sein Ding, auch preislich nicht.“

Eine häufige Reaktion ist der Rückzug in die eigene Wohnung. Alleinstehende können auf diese Weise einsam werden. Gerade in der Maxvorstadt leben viele Menschen allein. Seiss fiel immer stärker auf, dass ältere Menschen weniger sichtbar waren. Das Thema ließ sie nicht los. Sie wollte etwas tun, für Begegnung und, angesichts der vielen niedrigen Renten, gegen Altersarmut.

Was genau dieses „etwas“ sein könnte, wurde ihr 2024 auf einer Reise nach Ostafrika klar. Seiss kennt die Region gut, vor allem Kenia und Tansania haben es ihr angetan. Hier werden Touristen mit „Jambo“, auf Deutsch „Hallo“, begrüßt. Für Seiss ein Wort mit fröhlichem, offenem Klang. Ein Wort, das auch als Name für ein Unternehmen passen könnte, dachte sie. Ein Unternehmen, mit dem sie den Wunsch, ältere Menschen mehr einzubinden und ihnen einen Zuverdienst zu ermöglichen, verbinden könnte mit ihren anderen Leidenschaften: für Afrika, für Kleidung mit Leo-Print (die sie auch beim Gespräch trägt) und fürs Nähen (das sie bereits als Kind von ihrer Mutter lernte).

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.



Im Spätsommer 2024 gründete Seiss Jambo, ein Label für Kinderkleidung mit Leo-Muster aus Öko-Tex-Stoffen, hergestellt in München von Menschen, die eigentlich längst im Ruhestand sind, aber ihre Berufs- und Lebenserfahrung sinnvoll und gemeinsam mit anderen einbringen möchten. In den Räumen einer Münchner Nähschule fertigen sie Kleidung für Kinder zwischen drei und acht Jahren, die kleinste Größe ist 98, die größte 128. Die Preise sind bewusst moderat gehalten: Leggings sind ab 27 Euro zu haben, Shorts ab 30 Euro. Gemeinsam haben die T-Shirts, Leggings, kurzen Hosen, Röcke, Dirndl, Stirnbänder und Scrunchies (die auch Erwachsene tragen können) eins: das Leoparden-Muster in bunten Farben. Das ist derzeit nicht nur sehr gefragt in der Mode, sondern auch noch praktisch: Flecken sieht man darauf nicht sofort.

Einfach mal rauskommen und sich mit anderen austauschen

Aktuell besteht das Jambo-Team aus neun Frauen und Männern, die jüngste ist 65, der älteste 78. Sie arbeiten auf Minijob-Basis. „556 Euro mögen nicht viel in einer teuren Stadt wie München sein, aber zumindest ermöglicht diese Summe es, sich auch mal etwas zu gönnen, was sonst vielleicht nicht möglich wäre“, sagt Seiss. Aber nicht alle Seniorinnen und Senioren bei Jambo leben in Altersarmut, betont sie: „Für manche steht im Vordergrund, eine sinnvolle Beschäftigung zu haben.“ Da ist die ältere Dame, deren Ehemann vor Kurzem verstarb und die „einfach raus und sich mit anderen austauschen möchte“. Und da ist der syrischstämmige Rentner, der in seiner Heimat in einer Nähfabrik gearbeitet hat, bevor er nach München kam – und dem Seiss kaum noch etwas erklären muss, wenn sie dem Team neue Entwürfe zeigt.

Praktisches Tarnmuster: Flecken sieht man auf Leo-Print nicht sofort.
Praktisches Tarnmuster: Flecken sieht man auf Leo-Print nicht sofort.Designerpoint

An den Fähigkeiten der Seniorinnen und Senioren, die sie durch Aushänge in Münchner Alten- und Service-Zentren fand, liegt es also nicht, dass bei Jambo-Entwürfen so oft wie möglich auf Knöpfe und Reißverschlüsse verzichtet wird. Gerade bei Kindermode können solche Elemente einfach schnell kaputtgehen, sagt Seiss. Stattdessen setze Jambo auf dicke, strapazierfähige Nähte, denn „unsere Sachen sollen lange getragen und an Geschwister weitergegeben werden können“.

Und warum entschied sie sich ausgerechnet für Kinderkleidung? „In diesem Bereich erschien mir der Einstieg am einfachsten. Kindermode verschenkt man eher als Erwachsenenmode, Trends spielen eine geringere Rolle, und Kindermode ist eher geschlechterneutral.“

Die Erfahrung älterer Menschen kann kostbar fürs Berufsleben sein

Die Gründerin ist als einzige ehrenamtlich dabei. Viele Jahre arbeitete sie in der internationalen Hotellerie- und Brauereibranche, heute leitet sie ein Unternehmen, das sich auf Hotel- und Restauranttests spezialisiert hat. Eine fast ausschließlich digitale Arbeit – und eine sehr flexible: „Ich kann zu jeder Tages- und Nachtzeit arbeiten, denn Hotel- und Restauranttests werden rund um die Uhr gemacht.“ 25 bis 30 Stunden widmet sie Jambo in Produktionswochen, in ruhigeren Phasen sind es um die zehn Stunden.

Vollzeitjob und ehrenamtliches Engagement, das klingt nach Doppelbelastung. Seiss empfindet es aber vor allem bei der Preisgestaltung als entlastend: „Mein Gehalt verdiene ich mit meinem Hauptjob. Das, was bei Jambo übrig bleibt, stecken wir in das Projekt.“ Vor allem in die Ausstattung, die kostspielig sein kann, wenn es etwa um Industrienähmaschinen geht. Als nächste große Investition sei eine Stickmaschine geplant, so die ehrenamtliche Gründerin.

Jambo-Gründerin Julia Seiss
Jambo-Gründerin Julia SeissLuise Aedtner

Am Beispiel von Jambo wird deutlich, wie wichtig generationsübergreifendes Arbeiten ist und wie kostbar die Erfahrung älterer Menschen im Berufsleben sein kann. Das zeigt sich auch an der besonderen Rolle, die Seiss’ Mutter bei dem Projekt spielt. Von Anfang an unterstützt sie, ebenfalls eine leidenschaftliche Hobby-Näherin, Jambo tatkräftig: „Meine Mutter hat dreißig Jahre Erfahrung als Produktionsleiterin in einem großen Unternehmen. Bei Jambo hilft sie mir bei der Struktur der Produktionsprozesse und steuert viele Design-Ideen bei.“

Man merkt Seiss an, wie sehr sie die jahrzehntelange Erfahrung anderer wertschätzt und respektiert. Die Frage, ob sie im Nähstudio neue Designs besonders geduldig oder langsam erklären müsse, bringt sie dann auch zum Lachen: „Ganz und gar nicht. Es geht eher schneller. Diese Menschen waren oft über vierzig Jahre im Berufsleben und haben wahnsinnig viel Lebenserfahrung. Sie hören zu, sagen ‚alles klar‘ und legen los.“

Ein Drittel findet einfach Leo-Prints cool

So kurz es Jambo erst gibt, so groß ist die Resonanz. „Ein Drittel der Kunden kauft bei uns, weil sie das Projekt und die Idee, dass wir Menschen wieder in die Gesellschaft inkludieren, unterstützen wollen. Ein Drittel, weil sie lokal einkaufen möchten. Und ein Drittel findet einfach Leo-Prints cool“, sagt Seiss.

Auch das Feedback potentieller Mitstreiter ist groß. Immer öfter erreichen Seiss Anfragen von Menschen, die an der Nähmaschine mitmachen möchten. Aktuell sei das Pensum noch begrenzt, denn in den Räumen der Nähschule, in denen Jambo derzeit produziert, ist nur Platz für fünf Nähmaschinen. Die Frage, ob man auch von zu Hause aus nähen könnte, wird der Gründerin oft gestellt. „Das übersteigt aktuell noch unsere Kapazitäten“, sagt Seiss, aber: „Langfristig wäre es schon ein Wunsch, die Idee auf Standorte in anderen Städten auszuweiten.“ Altersarmut und immer weniger Anlaufpunkte für ältere Menschen seien ja überall im Land ein Problem.

Bis es so weit ist, plant sie die nächsten Schritte: Zwei Jambo-Kollektionen pro Jahr soll es künftig geben, eine im Frühjahr, eine im Herbst. Außerdem möchte Seiss auch Seniorinnen und Senioren mit wenig Näh-Erfahrung einarbeiten können – am liebsten im eigenen Nähstudio: „Ein eigener kleiner Produktionsstandort mit angeschlossenem Verkaufsraum ist unser großer Wunsch für die Zukunft.“ Bislang sind Jambo-Designs nur im Onlineshop erhältlich, aber Seiss ist schon in Gesprächen mit Münchner Einzelhändlern. Hoffentlich ist auch einer in der Maxvorstadt darunter.

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