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Mit Bollerwagen gegen die AfD: “Hallo, ich bin Ihre Bundestagsabgeordnete, …” | ABC-Z

Jedes Jahr läuft die SPD-Bundestagsabgeordnete Maja Wallstein Hunderte Kilometer zu Fuß durch ihren Wahlkreis in der Lausitz. Die Region ist AfD-Hochburg. Unterwegs mit einer Frau, die nicht akzeptiert, dass die Menschen wegen unterschiedlicher Ansichten nicht mehr miteinander sprechen.

Wer in der Brandenburger Lausitz nur lange genug vor seiner Haustür sitzt, bekommt irgendwann Besuch von Maja Wallstein – in Barfußschuhen und mit Bollerwagen an der Hand. Die SPD-Bundestagsabgeordnete läuft ihren Wahlkreis Cottbus und die umliegende Spree-Neiße-Region zu Fuß ab. Nach eigenen Angaben mehrere Wochen im Jahr, bis zu 600 Kilometer. Egal, ob gerade eine Wahl ansteht oder nicht: Möglichst kein Ort wird ausgelassen. Die “Zuhör-Tour” ist Wallsteins Ansatz, gegen den Vormarsch der AfD anzukämpfen und miteinander ins Gespräch zu kommen.

“Ich möchte einfach nicht hinnehmen, dass wir nicht mehr miteinander reden können, nur weil wir unterschiedliche Ansichten haben”, sagt Wallstein an einem Augustmittwoch, an dem ntv.de sie und ihren Wahlkreismitarbeiter Paul Weisflog begleitet. Die 38-Jährige holt Weisflog und den Journalisten vormittags am Cottbusser Hauptbahnhof ab. Auf dem Vorplatz hängt an den hohen Laternenmasten nicht ein AfD-Plakat. Es sind zehn – pro Pfahl.

Wallstein dagegen ist diskret unterwegs in der AfD-Hochburg Lausitz. Nicht einmal ein kleiner SPD-Button ist auf ihrem unauffälligen Familienkombi zu sehen. Anderswo haben Bundestagsabgeordnete ihren Namen und ihr Gesicht großflächig auf ihrem Pkw kleben. Das aber wäre viel zu gefährlich in einer Region, wo militante Rechtsextremisten schon in den 1990er und frühen 2000er Jahren ihr Unwesen trieben – und seit dem Aufstieg der AfD wieder mächtig Oberwasser haben. Doch dazu später mehr.

“Wenn ich das Wort Krieg höre, krieg’ ich das Kotzen”

Auf der Fahrt raus aus Cottbus redet Wallstein gegen die eigene Erschöpfung an. Sie will an diesem Tag trotz Erkältung durchziehen. Sie muss einen Großteil ihrer Tour im Sommer schaffen; die vielen kleinen Orte abklappern, solange der Bundestag pausiert. Also Bollerwagen raus aus dem Kofferraum. Flyer, Infomaterialien und Wahlkampfgeschenke wie Stifte und Gummibärchen reinpacken. Dazu Wasser, eine Nussmischung und getrocknete Feigen. Das muss reichen als Wegzehrung für den mehr als 17 Kilometer langen Marsch durch sechs Dörfer, die weder einen Imbiss noch einen Einkaufsladen haben.

Erste Station ist Trebendorf, sorbisch Trjebejce: Die zweisprachigen Ortseingangsschilder gehören zur Lausitz wie die weithin sichtbaren Dampfwolken des Kraftwerks Jänschwalde. Der Braunkohletagebau hat die strukturschwache Region an der Grenze zu Polen viele Jahrzehnte genährt. 2038 ist Schluss mit der Kohle und die Lausitz deshalb Frontregion der großen Transformation hin zu erneuerbaren Energien. Sie sollen künftig Arbeitsplätze schaffen und vor allem weitere Unternehmen mit günstigen Strompreisen locken. Auch in die Universitätsstadt Cottbus haben Bund und Land viel Geld gesteckt, um der Region eine Zukunft zu geben.

Die kleinen Sorgen des Alltags und die große Weltpolitik: Am Gartenzaun springt Wallstein durch die Themen, die ihre Gesprächspartner bewegen.

Am Ortseingang von Trebendorf spricht Wallstein lange mit einem sehr betagten, aber rüstigen Rentner, der nach 29 Jahren als Kranführer im Tagebau sagt: “Uns ging es noch nie so gut wie jetzt.” Zu überzeugen brauche ihn die junge Frau nicht, deren Besuch er “angenehm überraschend” findet. “Ick hab imma SPD jewählt, fertich is der Lack”, sagt er.

Die Waffenlieferungen an die Ukraine aber versteht der Mann nicht. “Wenn ich das Wort Krieg höre, krieg’ ich das Kotzen”, sagt er und berichtet mit brüchiger Stimme von den eigenen Kindheitserinnerungen an die Flucht aus dem heutigen Polen. “Die Ukrainer haben auch Angst vor dem Krieg”, schlägt Wallstein einen Bogen zum Kurs ihrer Partei. Am Ende der Begegnung schenkt sie dem Mann ein Polaroid mit einem gemeinsamen Selfie-Foto. Er freut sich.

Ein “Hallo” mit offenem Ausgang

Es wird das längste Bürgergespräch dieses Tages bleiben. Das liegt zum einen daran, dass die typische Reaktion eines Brandenburgers auf Fremde mit ‘zurückhaltend’ noch zurückhaltend umschrieben ist. Zum anderen sind die Menschen an einem Mittwoch nach den Schulferien überall, nur nicht in ihren Dörfern. Arbeitsplätze, Schulen, Ärzte, Geschäfte und Restaurants sind fast immer anderswo und dann meist auch nur mit dem Pkw zu erreichen. Einzig die Rentner sind daheim, auf den Höfen der vielen Einfamilienhäuser mit den gut einsehbaren, gepflegten Gärten. In der Lausitz dominiert der kleine Wohlstand. Stabile Lebensverhältnisse, ohne große Sprünge.

“Hallo, ich bin Ihre Bundestagsabgeordnete …”, legt Wallstein los, wenn sie doch einmal jemanden auf der Straße oder in der Nähe eines Gartenzauns erblickt. Zur Bundestagswahl 2021 hat sie sich mit gerade einmal 2352 Stimmen Vorsprung vor dem AfD-Kandidaten durchgesetzt, damals getragen auch von einer SPD im Aufwind. Viele der Angesprochenen scheinen nicht auf Anhieb zu verstehen, dass die zierliche Frau mit dem SPD-roten Bollerwagen ihre Bundestagsabgeordnete sein soll. Andere erkennen sie wieder von Plakaten und Fernsehauftritten. Zu ihrem Vorstellungssatz aber muss sich zwangsläufig jeder verhalten. Freudig, interessiert, ablehnend, feindselig, gelangweilt, überfordert: Wallstein lächelt, ihr Gegenüber reagiert. Wie genau, das weiß sie vorher nie.

“Ich war hier”: Vor jedem Dorfeingangsschild lässt Wallstein ein Handyfoto für ihre Internet-Auftritte schießen.

“90 Prozent der Begegnungen gehen freundlich und in Frieden auseinander”, sagt Wallstein. Und: “Die Saat geht auf.” Immer öfter werde sie wiedererkannt, immer öfter führe sie Gespräche mit Menschen, denen sie auf früheren Wanderungen begegnet sei. Und wen sie nicht antrifft? Der oder die bekommt einen Flyer in den Briefkasten. Auch an die Aushänge im jeweiligen Dorfkern hängen Wallstein und Weisflog ihre Zettel.

“Ich will es nicht verbocken”

“Am großen Rad der Weltpolitik kann ich nicht drehen, aber hier vor Ort kann ich helfen”, versucht Wallstein im Dorf Gahry eine skeptisch dreinblickende Frau am Gartenzaun zum Reden zu bekommen. Doch der fällt kein konkretes Anliegen ein. Vielen Menschen im Osten ist der Politikbetrieb im nahen Berlin fremd geblieben. Man ist in den Jahrzehnten der Unsicherheit nach der Wende eben stark mit dem eigenen Vorankommen beschäftigt gewesen. So erklärt sich Wallstein die Distanz der Menschen zur Politik. Die Thesen von Dirk Oschmann zum Kolonialisierungsgefühl vieler Ostdeutscher erscheinen der Politikerin plausibel. Und immer wieder betont sie, wie stabil die meisten Menschen auch im Osten seien. “Zwei Drittel der Wähler stimmen eben nicht für die AfD”, gibt Wallstein zu bedenken.

Im Dorf Jethe erwischt die Sozialdemokratin eine Frau beim Unkrautjäten am Gartentor. Die kann als einziges Problem des Ortes den fehlenden Glasfaseranschluss benennen. “Ich will es nicht verbocken”, sagt ihr Wallstein. Deshalb brauche sie die Rückmeldungen der Wahlkreisbewohner für ihre Arbeit in Berlin. Da erinnert sich die Frau, dass ihr Mann sich Sorgen mache über die Zukunftstauglichkeit der Holzheizung. Wallstein zückt einen Informationszettel zum Heizungsgesetz und bietet eine persönliche Beratung im Wahlkreisbüro an.

Die AfD hat Parolen, Wallstein Gesprächsangebote

In den ostdeutschen Landtagswahlkämpfen machen diesen Sommer viele Parteien und Politiker die Erfahrung, dass die Menschen nur wenig über Probleme vor Ort sprechen wollen. Das dominierende Thema neben der Migration ist der Krieg in der Ukraine. Vor einem Gartencenter nahe Dubrau zurrt ein Mann in Arbeitskleidung gerade seine Einkäufe auf dem Anhänger fest: “Das ist alles ganz großer Humbug, was ihr da macht”, poltert er los, als er Wallstein erkennt. Die Bundesregierung provoziere einen Krieg mit Russland und lasse sich von den USA lenken. Seine Stimme bebt vor Wut, aber mit Wallstein diskutieren will der Mann nicht.

Der kürzeste Weg zwischen zwei Orten ist in der Lausitz nicht immer eine Straße.

Die strikte West- und NATO-Orientierung der SPD ist unpopulär in Brandenburg. 70 Jahre währender, seit der Nazi-Zeit ununterbrochener Anti-Amerikanismus wirken noch stärker nach als die zu DDR-Zeiten vorgegebene Freundschaft zu Russland. Die AfD knüpft im Wahlkampf an die Vorurteile und Ängste der Menschen an. Sie verbreitet russische Erzählungen, wonach der Krieg vor allem die Schuld der US-Regierung sei; Deutschland sich einfach aus dem Konflikt heraushalten könne und wieder billiges russisches Gas importieren.

Wallstein hat keine solcher simplen Erzählungen im Bollerwagen. Sie bietet Austausch an und tastet sich in diesen Gesprächen mit ruhiger Stimme vor, ob sie nicht trotz unterschiedlicher Ansichten Gemeinsamkeiten ausmachen kann. Sie habe doch auch Angst vor Krieg, sagt sie dann etwa und erzählt von ihren eigenen Kindern. Und: Sie wisse auch nicht, wie der Krieg beendet werden könne. Putin reagiere ja offenbar nicht auf diplomatische Vorstöße zu Waffenstillstandsverhandlungen. Sie muss sich dabei auf das stützen, was Bundeskanzler Olaf Scholz in der Fraktion so berichtet. Wallstein ist die personifizierte Brücke vom Kanzleramt in die Lausitz. Doch so richtig beeindruckt zeigt sich davon an diesem Tag niemand.

Der Fußball baut Brücken

Zu Wallsteins Vorbildern zählt die 2001 verstorbene Sozialdemokratin Regine Hildebrandt. Die ostdeutsche Sozialpolitikerin war ein unerschrockenes Energiebündel, die sich leidenschaftlich für die Belange von Frauen und Familien einsetzte. Die Parallelen sind offenkundig zu der Frau, der der frühere SPD-Ministerpräsident Matthias Platzeck einst den Namen “Krawallstein” anheftete. Mit Hildebrandts legendärer Berliner Kodderschnauze aber kann Wallstein nicht mithalten, auch wenn sie durchaus Brandenburgisch spricht.

“Willste ‘n bessren Schiri, müssta aufsteigen”, frotzelt sie etwa im Dorf Gahry im Gespräch mit einem Kameraden der Freiwilligen Feuerwehr und Amateurfußballer. Die ehrenamtliche Fußballschiedsrichterin Wallstein bietet an, ein Spiel des Dorfvereins zu pfeifen. Aber: “Nach’m Spiel krieg’ ich ‘n Bier!” Die Männer der Freiwilligen Feuerwehr waren nicht schnell genug nach drinnen gehuscht, als sie Wallstein kommen sahen. So kommt dann doch ein Gespräch zustande. Die gemeinsame Liebe zum Fußball schafft Verbindungen, wo sonst kaum welche sind. Hernach glaubt Wallstein nicht, mit SPD-Wählern gesprochen zu haben. “Aber vielleicht helfen solche Gespräche, mich zu entteufeln.”

Was das Gespräch mit den Männern der Freiwilligen Feuerwehr gebracht hat? Wallstein kann nur mutmaßen.

Denn Wallstein wird auch gehasst. Anders lässt sich nicht beschreiben, was sie immer wieder aus der rechtsextremen Szene erfährt: Beschimpfungen, Drohungen und andere Einschüchterungsversuche. Wallstein redet öffentlich wenig über ihre persönliche Gefährdung und ihre Schutzmaßnahmen. Deshalb nur so viel: Die Einschüchterungsversuche sind systematisch und teils schlicht widerlich. Spätestens seit dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke müssen sich auch die Unerschrockenen diese eine Frage stellen: Was, wenn sich wieder jemand durch all die verbalen Attacken und Beleidigungen im Internet animiert fühlt, zur Tat zu schreiten?

Ist das den Aufwand wert?

Warum tut sich Wallstein das an? Ihre Ausbildung ist gut, sie könnte auch etwas anderes tun. “Das ist der beste Job, den ich je hatte”, sagt Wallstein über das Abgeordneten-Dasein. Ganz praktisch Dinge bewegen zu können, die Begegnungen mit den Menschen: Das mache ihr unheimlich Freude. So viel Freude, dass Wallsteins Laune auch nicht getrübt wird, als es mit dem Bollerwagen über mehrere Kilometer quer über sumpfnasse Wiese geht, wo ihr Wahlkreismitarbeiter einen Feldweg erwartet hatte.

Wallstein und Weispflog flachsen und tauschen Erinnerungen an noch widrigere Bedingungen aus. Der Hals schmerzt zwar und die Stimme schwindet, doch das bremst Wallsteins Redefluss nicht. Zusätzlich zu ihren Wanderungen geht sie möglichst oft laufen, um als Schiedsrichterin die vielen Sprints zu schaffen. Zumindest ihr Energielevel würde wohl reichen, um auch in der Bundespolitik Karriere zu machen. Der geringe Schlafbedarf vieler Spitzenpolitiker ist unter Journalisten legendär.

Doch Wallstein verwendet ihre Kraft bislang auf ihre Heimat und ihre Familie, statt auf einen schnellen Aufstieg in ihrer Fraktion. Aber der Aufwand, den sie hier betreibt: Lohnt sich das? Sieben Stunden ist sie an diesem Tag gelaufen. Echte Gespräche kamen vielleicht fünf zustande. Zweimal hat sie sich anpöbeln lassen. An anderen Tagen komme es zu mehr Begegnungen, sagt Wallstein. Sie gibt sich überzeugt von der Kraft des persönlichen Austausches: “Im Kern sind wir Menschen alle gleich: Wir wollen, dass es unseren Lieben gutgeht”, sinniert sie am Steuer auf dem Weg zurück zum Hauptbahnhof Cottbus. Daraus muss sich doch etwas machen lassen.

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