Mira? Mia? Mila? Die aus dem Turnen halt! – Gesellschaft | ABC-Z

Jetzt geht selbst in Bayern, wo nach dem Krieg die Bauernkinder das Vorrecht auf späte Sommerferien hatten, damit sie den Eltern bei der Ernte helfen konnten, und heute die Unternehmensberaterkinder das Vorrecht auf späte Sommerferien haben, damit sie mit den Eltern bis zum Oktoberfest auf Korsika bleiben können, die Schule wieder los. Ich habe mir als Vater zweier Schüler, die gerade in Berlin auf neue Schulen gekommen sind, ein Ziel gesetzt: mir mehr Namen merken, von Lehrern und Mitschülern. Zum Abschied aus München bekamen mein Sohn und meine Tochter noch mal Klassenfotos. Sie wussten genau, dass ich ab Reihe eins ins Straucheln komme, aber fragten mich, ob ich alle erkenne. Mila, nein … Mia? Na, die aus dem Turnen… Mira? Sie höhnten: Papa, interessierst du dich etwa nicht für unser Leben?!
Dabei habe ich bloß eine Namensschwäche, schon immer. Mein erstes Amt als Vater war vor langer Zeit das des Protokollanten auf Kindergarten-Elternabenden. Zuerst musste man notieren, wer anwesend war. Ich kam schweißgebadet nach Hause und bat meine Frau, aus meinem Gekritzel schlau zu werden. Wie heißt der „Vollbartvater“, wer ist die „strenge Rothaarige“, wen meinte ich mit „nuschelnder Surferdude“?Wenn meine Kinder ihre Hausaufgaben machen, schreibe ich jetzt heimlich alle Namen auf, die sie erwähnt haben, Querverbindungen, Eselsbrücken – ich lerne ihre Klassenlisten auswendig, ich schaffe das! Die Namen aus meiner eigenen Schulzeit erinnere ich mühelos. Mein erster Sportlehrer hieß Herr Borg – wie die fiese Zivilisation aus „Star Trek“. Wenn man zu laut war, schrie dieser Borg: „Ruhe, du Clown!“, und zog einen seiner Hallenschuhe aus, um damit nach uns zu werfen.Damals fand ich das nicht lustig, aber ich habe wenig schlechte Erinnerungen an die Schule. Dieses Glück (oder Privileg, wie man heute schuldbewusst sagt) muss der Grund sein, warum ich ein entspanntes bis naives Verhältnis zur Schullaufbahn meiner Kinder habe. Anders als mit Traumata kann ich mir nicht erklären, dass viele Eltern, die ich kenne, vor der Einschulung derart besorgt um das Seelenheil der Kleinen sind – oder überlegen, sie trotz eines Einserschnitts auf die Realschule zu schicken (wogegen an sich nichts spricht), um ihnen „den Druck zu ersparen“, wie mir einer sagte. In meinem Umfeld haben manche Eltern mehr Horror vor der Schule als ihre Kinder.
Es gibt gefährlichere Systeme als das deutsche Bildungswesen – zum Beispiel die Familie
Einiges am deutschen Bildungswesen ist sicher reformierbar, aber es gibt gefährlichere Systeme, denen man sein Kind ausliefert (Kapitalismus, die Familie etc.). Außerdem habe ich an wirklich jeder Schule unglaublich viele tolle Pädagogen kennengelernt.Wenn sie mich mal wieder nicht um Rat gebeten haben, rate ich meinen Kindern: Mit ein bisschen Fleiß und sozialer Intelligenz kommt ihr unbeschadet aus der Schule raus. Und was ihr dann mindestens gelernt habt: wie man unbeschadet aus einer nervigen Sache rauskommt. Das hilft im Leben. Zum Beispiel in so Meetings, in denen ich oft sitze, seitdem ich nicht mehr zur Schule gehe (vielleicht, weil meine Noten nicht sehr gut waren), und keine Ahnung habe, wie der Typ heißt, der nicht aufhört zu reden, und mir denke: Ruhe, du Clown! Mir hilft es, dass im Zeitalter virtueller Meetings neben jedem Clown ein Name steht. Schade nur, dass man auf Teams keinen Schuh werfen kann.
In dieser Kolumne schreiben Patrick Bauer und Friederike Zoe Grasshoff im Wechsel über ihren Alltag als Eltern. Alle bisher erschienen Folgen finden Sie hier.