Geopolitik

Migration nach Europa: Der Junge, der nie ankam | ABC-Z

Ein Boot in Seenot, verzögertes Eingreifen und tragische Folgen: Moises ist drei Jahre alt, als sein Leben ein plötzliches Ende nimmt. Wie ihm geht es vielen Kindern, die versuchen über das Meer nach Europa zu gelangen.

An einem Abend im Juni 2023 senkt sich die Sonne im Atlantik, als das spanische Seenotrettungsflugzeug Sasemar 101 auf der Suche nach einem verschollenen Boot über dem Ozean kreist. Zuvor hatten Aktivisten einen Alarm abgesetzt. Vom Cockpit aus sieht der Pilot plötzlich einen dunklen Fleck im Wasser: ein Cayuco, eines jener Holzboote, mit denen Zehntausende pro Jahr versuchen, Europa zu erreichen.

„Position bestätigt, innerhalb unserer Seenotrettungszone. Die Verantwortung liegt bei uns“, meldet der Pilot an die Koordinierungsstelle. Etwa 50 Menschen seien an Bord. Die Antwort ist erstaunlich: Die Koordinierungsstelle weist ihn an, zur Basis zurückzukehren. Marokko solle die Rettung übernehmen. Der Pilot wiederholt: Das Boot sei in spanischen Gewässern. Einer der Menschen an Bord ist Moises, ein Dreijähriger aus der Elfenbeinküste. Bei ihm ist sein Stiefvater. Bis ein marokkanisches Schiff eintrifft, vergehen rund zwölf Stunden. In der Zwischenzeit ist das Boot gekentert, Retter ziehen 24 Migranten lebend aus dem Wasser. Die anderen ertrinken. Ein dann doch eingesetzter Hubschrauber der spanischen Seenotretter fliegt Moises in ein Krankenhaus auf Gran Canaria. Auch er stirbt.

Es dauert lange, ehe die Identität des Jungen zweifelsfrei festgestellt wird, bis klar ist, dass er nicht anonym bestattet werden muss, wie es bei toten Migranten so oft passiert. Im Sommer wird Moises auf Gran Canaria beerdigt, und die Besonderheiten dieses Dramas sorgen dafür, dass sein Schicksal landesweit bekannt wird. Seine Mutter, Charlotte B., durfte nicht nach Spanien, bei der Beerdigung wird bloß ein Brief von ihr verlesen. „Mein Sohn hatte etwas Besseres verdient. Vergib mir, Moises“, heißt es da. „Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich es tun, und du hättest das Meer nicht überquert. Aber ich habe diese Macht nicht. Mein Herz ist gebrochen.“

Was denkt B. heute über ihren Verlust? Die Frau war nach dem Unglück von Aktivisten abgeschottet worden, erst Anfang Dezember gelang es WELT AM SONNTAG, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Sie sei allein aus ihrer Heimat nach Marokko gekommen, um Arbeit zu finden, erzählt sie am Telefon. „Sechs Monate später habe ich den Vater von Moises kennengelernt. Ich wurde schwanger. Er wollte, dass ich mein Kind abtreibe, aber ich habe abgelehnt. Also verließ er mich.“ Mit Fortschreiten der Schwangerschaft habe sie nicht mehr arbeiten können, habe bis zur Geburt von Moises gebettelt und auch danach.

„Alle wollen nach Europa“

Tan-Tan, das ist ein Ort, den fast alle Migranten aus der Subsahara kennen, die schon in Marokko sind. Einer der wichtigsten Abfahrtsorte gen Europa. B. fuhr hin, lernte wieder jemanden kennen, wurde erneut schwanger. „Wir wollten alle nach Europa“, sagt sie heute. Sie versprach Moises, in die Schule gehen zu können. Gemeinsam mit ihrem Mann Sylla organisierte sie die Überfahrt für sie und die beiden Kinder. Der Zweitgeborene, Arcange, war drei Monate alt – zu klein, um mitzufahren, sollen die Schmuggler gesagt haben. Ihr Mann aber fuhr los – und Moises auch. Aber sie kamen nicht an.

Die Überlebenden, die zurück nach Marokko gebracht wurden, gaben der Mutter keine Auskunft über den Verbleib von Moises und seinem Stiefvater. Die Polizei sagte, Moises liege im Koma; sie solle nach Rabat kommen. „Ich verbrachte die Zeit damit, zu beten, dass Gott mein Kind aus dem Koma holen würde“, sagt sie. In Rabat wurde ihr ein paar Tage später die Nachricht überbracht, dass weder Moises noch ihr Mann überlebt hatten. Und dass Moises’ Leiche in Spanien sei. „Ich war in einem Zustand, in dem ich nichts mehr wahrnehmen konnte“, sagt sie heute. Sie hätte so viel Leid mit Moises erlebt: „Ich habe gebettelt, um ihn zu ernähren, und ihn so zu verlieren, war schrecklich.“ War ihr die Gefahr denn nicht bewusst? „Wir wollten doch nur nach Spanien kommen, wie all unsere Freunde, die es geschafft haben. Ich habe nie an den Tod gedacht.“

Moises‘ Schicksal ist kein Einzelfall, immer wieder kommen Kinder bei den Überfahrten um. Fatmate, ein fünfjähriges Mädchen aus der Elfenbeinküste, starb 2021, als sie nur mit ihrem Onkel an Bord eines Cayucos war; ihre Eltern waren schon früher illegal nach Frankreich gereist. Eigentlich sollte sie ohne Namen beerdigt werden, weil DNA-Abgleiche fehlten; dabei war Fatmates Identität unbestritten. Die Eltern trauten sich monatelang nicht, zwecks DNA-Test eine Polizeistation aufzusuchen, aus Angst, abgeschoben zu werden. Der spanische Anwalt Daniel Arenciaba intervenierte, brachte die Eltern und ihr totes Kind für die Beerdigung zusammen. „Es gibt keine Entschuldigung dafür, dass ein Kind so lange in einer Leichenhalle liegt“, sagte er.

„Besonders schockierend“

Und die Gerichtsmedizinerin María José Meilán, die für die Autopsie Fatmates zuständig war, erklärte: „Ich habe an vielen Fällen gearbeitet, aber dieser war besonders schockierend. Ich verstehe nicht, warum die Freigabe der Leiche so lange gedauert hat. Ein Mangel an Menschlichkeit.“

Und es gibt so viele tote Kinder mehr, etwa Eléna, zwei Jahre alt, gestorben im März 2021, als ihr Cayuco schon die spanische Küste erreicht hatte. Ihre Mutter sah mit an, wie die Wiederbelebung an der Kaimauer fehlschlug. Erst im Juli starb eine andere Zweijährige auf der Kanaren-Insel El Hierro. Für Arencibia ist die Sache klar: „Europa muss Verantwortung übernehmen und dafür sorgen, dass sich so etwas nicht wiederholt.“ Europa? Oder auch die Eltern selbst, die ihre Kinder auf die Boote setzen?

Was den Fall von Moises angeht, ermittelt die Staatsanwaltschaft von Las Palmas wegen unterlassener Hilfeleistung gegen die Behörden; denn das Cayuco war in spanischen Gewässern. „Dieser Fall stellt einen klaren Verstoß gegen die Protokolle dar“, heißt es in einem Zwischenbericht der Staatsanwaltschaft, der WELT AM SONNTAG vorliegt. Und: „Die Verzögerung war entscheidend für den Tod des Kindes.“

Anwalt Arencibia sagt, man müsse jetzt alles dafür tun, „dass nicht noch mehr Kinder auf dem Meer sterben und auf Hilfe warten, die nie kommt“. Ein Mitarbeiter der spanischen Seenotrettungsgesellschaft, der namentlich nicht genannt werden wollte, sagte: „Bei Notfällen mit Minderjährigen müssen wir unverzüglich handeln. Das Protokoll ist dazu da, Leben zu retten, und nicht, Entscheidungen zu verzögern.“

Und Charlotte B. selbst? Sie ist immer noch in Marokko. Sie wollte unbedingt ein Foto ihres toten Kindes, aber die Aktivisten, die sie unterstützten, sagten, das sei nicht möglich. Ihr Smartphone-Hintergrund zeigt sie mit Moises zu Lebzeiten und dem kleinen Bruder, und manchmal fragt sie sich: Und wenn der Junge gar nicht tot ist? Sie sagt: „Mein größter Wunsch ist, dass eines Tages jemand anruft und mir sagt, dass mein Kind lebt.“

Wir sind das WELT-Investigativteam: Sie haben Hinweise für uns? Dann melden Sie sich gerne, auch vertraulich – per E-Mail oder über den verschlüsselten Messenger Threema (X4YK57TU).

Back to top button