Migräne am Arbeitsplatz: Die unverstandene Krankheit – Wirtschaft | ABC-Z

Würde sie nicht unter Migräne leiden, hätte Katrin Senf heute womöglich einen anderen Job. Vielleicht wäre sie sogar Schulleiterin. Doch wegen ihrer Erkrankung wagte die Pädagogin es nie, sich auf entsprechende Stellen zu bewerben. Auch um ihre derzeitige Position – sie ist mittlerweile in der Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften tätig – bemühte sie sich erst, als sie ein wirksames vorbeugendes Medikament gefunden hatte. „Davor war es Alltag, dass ich Termine abgesagt, Aufgaben nicht fertig bekommen habe“, erzählt die 49-Jährige am Telefon.
Migräne ist mehr als Kopfschmerz, wie ihn eine große Mehrheit der Deutschen kennt. Mindestens einmal im Jahr brummt fast jedem der Schädel. Migräne jedoch ist eine komplexe neurologische Erkrankung, zu deren Hauptsymptomen ein starker, einseitiger und pochender Kopfschmerz gehört. Dazu kommen für viele Betroffene Übelkeit, Licht- und Geräuschempfindlichkeit und Konzentrationsstörungen. Zu einer Migräne mit Aura gehören zudem sensorische Missempfindungen. Den Betroffenen ist schwindlig, sie sehen Lichtblitze oder haben Wortfindungsprobleme. 14,4 Prozent der Frauen und sechs Prozent der Männer leiden dem Robert-Koch-Institut zufolge mindestens einmal im Jahr an Migräne.
Ihrem Arbeitgeber erzählen sie ungern davon. Eine Umfrage der Europäischen Migräne- und Kopfschmerzliga ergab, dass Migräne stärker stigmatisiert wird als Demenz, Parkinson und Schlaganfall. Eine Mehrheit der Befragten ist demnach überzeugt, dass die Öffentlichkeit die Krankheit nicht verstehe, medizinische Fachkräfte die Erkrankung nicht ernst nehmen würden und die Diagnose einen Einfluss darauf habe, wie ihre Leistung eingeschätzt wird. 43 Prozent erwähnen die Migräne daher in der Arbeit nicht, auch aus Angst vor den Folgen. Eine Beamtin, die aus Angst vor Nachteilen im Beruf nicht will, dass ihr Name hier genannt wird, berichtet, dass ihre Vorgesetzte sie nicht mehr beruflich reisen lässt, seitdem sie von der Krankheit weiß – aus Angst, sie könne danach länger ausfallen. Die Sorge ist nicht unbegründet, weswegen die Betroffene unschlüssig ist, ob sie die Maßnahme der Chefin fürsorglich oder ausgrenzend finden soll.
„Migräne ist keine psychosomatische Erkrankung.“
Noch immer ist Migräne Gegenstand dummer Witze, gilt als lahme Ausrede lustloser Frauen, wie sie Sängerin Ireen Sheer in ihrem Neunzigerjahre-Schlager besang: „Ich hab’ Migräne, weil ich mich sehne. Ich will geliebt sein, ich will mehr.“ In Erich Kästners Kinderbuch „Pünktchen und Anton“ heißt es: „Migräne sind Kopfschmerzen, auch wenn man gar keine hat.“
Anders als eine laufende Nase oder einen Gips kann man Migräneattacken eben von außen nicht sehen. Zudem kommen sie aus heiterem Himmel und manchmal zu verdächtigen Zeitpunkten: am ersten Tag nach einem längeren Urlaub zum Beispiel, nach einem heftigen Konflikt oder am Tag nach der Betriebsfeier. Häufiger allerdings tritt Migräne arbeitgeberfreundlich auf. Im Job beißen die Betroffenen die Zähne zusammen, ziehen das Projekt noch durch – und liegen dann das ganze Wochenende im Bett. Montags tauchen sie dann völlig gerädert wieder im Büro auf, denn länger als 72 Stunden dauern Migräneattacken in der Regel nicht. Anfälle während der Arbeitszeit versuchen die meisten mithilfe von Akutmedikamenten wie Triptanen zu stoppen und weiter zu funktionieren.
Das klappt jedoch nicht immer zuverlässig, schon gar nicht, wenn man die Tabletten zu häufig nimmt. „Man hat ständig das Gefühl, zu versagen“, sagt Lehrerin Katrin Senf. „An den Tagen, an denen man fit ist, muss man nacharbeiten, für den nächsten Anfall schon mal vorsorgen. Dadurch steigt der Druck.“ Anspannung und Stress können Migräne befördern, es ist ein Teufelskreis. Das erklärt Dagny Holle-Lee, Leiterin des Westdeutschen Kopfschmerzzentrums an der Uniklinik Essen. Dabei betont sie: „Migräne ist keine psychosomatische Erkrankung.“ Dass sie in belasteten Lebenssituationen öfter auftritt, unterscheidet sie nicht von anderen Krankheiten. Auch Infekte und Unfälle häufen sich dann.
Ob und wie sie mit ihren Vorgesetzten und Kollegen über ihre Migräne sprechen, sei ein großes Thema für fast alle ihre Patientinnen und Patienten, sagt Holle-Lee. In der Regel rät sie zu Offenheit, schließlich könnten die Arbeitsumstände oft so verbessert werden, dass es zu weniger Attacken kommt, wovon dann alle profitieren: ein Einzelbüro anstelle der Reizüberflutung im Großraum, weniger Bildschirmgeflacker im Raum, kein grelles Licht, ein ergonomischer Arbeitsplatz. Auch die Möglichkeit, flexibel zu arbeiten und sich Pausen nach Bedarf nehmen zu können, helfe vielen. Schwierig sind allerdings Berufsfelder mit großem Wettbewerbsdruck, in denen man sich keinesfalls angreifbar machen darf. „Hier kann es klüger sein, die Migräne zu verschweigen“, so die Neurologin.
Für manche Tätigkeiten bei der Polizei und bei der Bundeswehr sowie für Piloten sind Krankheiten mit neurologischen Ausfallerscheinungen – wie eine Migräne mit Aura – ein Ausschlusskriterium. Diese Karrierewege sollten sich Betroffene daher gut überlegen, sagt Holle-Lee. „Sonst kegelt es einen bei der ersten Gesundheitsprüfung raus.“ Ebenfalls problematisch: Schichtarbeit mit häufigen Tag- und Nachtwechseln oder Umfelder, in denen Abgrenzung kaum möglich ist, Kindertagesstätten zum Beispiel. Die am stärksten von Migräne betroffene Bevölkerungsgruppe, Frauen zwischen 20 und 50 Jahren, ist jedoch in großer Zahl im Gesundheits- und Bildungswesen tätig. „Hier müssen viele irgendwann einen Kompromiss zwischen ihren Karrierezielen und ihrer Gesundheit finden, zwischen eigenem Anspruch und Selbstfürsorge“, sagt Holle-Lee.
Mit ihrer aktuellen Stelle dachte Katrin Senf zunächst, diesen Kompromiss gefunden zu haben. Ein neues Medikament zur Vorbeugung minderte die Häufigkeit ihrer Migräneattacken, traten sie dann doch mal auf, halfen die Tabletten zur Akutbehandlung zuverlässig. Also wagte sie es, in die Aus- und Fortbildung zu wechseln und regelmäßig Seminare anzubieten, für die sich die Teilnehmenden oft Monate vorher angemeldet und extra Urlaub genommen haben. Es war eine Überwindung für jemanden, der immer Angst hat, plötzlich auszufallen. Doch es klappte – zunächst.
Tablette rein und weiter geht’s: Auf Dauer ist das keine Lösung
Wegen gravierender Nebenwirkungen musste Senf das vorbeugende Medikament nun allerdings absetzen – und die alte Panik vor den durchschnittlich acht bis zehn Migränetagen im Monat ist zurück. Am Abend vor Seminaren plagt sie der Gedanke: „Werde ich morgen funktionieren?“ Denn wenn nicht, ist eine Vertretung schwierig zu organisieren, im schlimmsten Fall fehlt den Lehramtsanwärtern ein wichtiges Ausbildungsmodul. Meist zieht sie es also durch. Wenn sie Glück hat, findet das Seminar online statt. Muss sie tatsächlich absagen, tut sie das wegen eines angeblichen fiebrigen Infekts, zu viel Sorge hat sie vor Unverständnis der Teilnehmenden. Diese würden sie schließlich nicht näher kennen, sagt sie. „Ich will nicht unzuverlässig wirken.“ Mit ihren Kolleginnen und Kollegen spricht sie offen über ihre Migräne. Die wüssten aber auch, dass sie keine sei, die sich einfach so drücken würde.
Hätte sie den Karriereschritt also besser gelassen? „Ich rate meinen Patientinnen und Patienten immer, sich nicht schon im Voraus von der Migräne bremsen zu lassen“, sagt Fachärztin Holle-Lee. Sie beobachtet häufig, dass sich Betroffene den nächsten beruflichen Schritt aus Angst vor einer Verschlimmerung der Schmerzen nicht zutrauen. Das trifft vor allem diejenigen, die wie Katrin Senf mehrmals pro Monat von Attacken heimgesucht werden. „Schwere Migräne kann Lebensträume zerstören“, sagt Holle-Lee.
Manchmal signalisiert eine Verschlimmerung der Krankheit aber auch, dass man im Leben etwas verändern sollte – wie bei Jens Marco Scherf. Der Landrat aus Bayern gab vor wenigen Monaten seinen Rückzug aus der Politik bekannt und begründete ihn unter anderem mit seiner Migräne. Die hatte ihn, wie er im Interview mit der Süddeutschen Zeitung erklärte, zwar immer schon geplagt, viele Jahre lang bekam er seine Aufgaben dennoch gut hin. Dass das zuletzt nicht mehr klappte, habe auch an der pausenlosen Belastung und dem zunehmenden Hass gelegen. Sein Körper habe ihm gesagt: „So mache ich mit dir nicht weiter.“
Letztlich können Betroffene ihre Migräneattacken daher durchaus als Warnhinweis verstehen. Einfach eine Tablette einwerfen und weitermachen wie bisher: Bei nur wenigen Attacken im Jahr kann man das guten Gewissens so machen. Wen die Migräne jedoch wesentlich häufiger ins dunkle Schlafzimmer zwingt, der sollte genauer hinschauen. Vielleicht braucht es einen ergonomischen Schreibtischstuhl, vielleicht einen Termin beim Facharzt oder ein neues Medikament. Vielleicht ist es aber auch Zeit für Veränderung.