Kultur

„Meteor“ von Joseph Vogl: Völlig losgelöst | ABC-Z

Manchmal staunt man, wie zäh leichte Literatur sein kann, hingegen vermeintlich schwere Literatur überraschend leichtfüßig. So auch bei Joseph Vogl, dem momentan vielleicht einflussreichsten Literaturwissenschaftler hierzulande, der aus seiner Abschiedsvorlesung vor zwei Jahren an der Humboldt-Universität zu Berlin ein Buch gemacht hat, Meteor heißt es. Denn so schwebend wie sein Thema – das Meteorische, verstanden eher als das Schweifende, Schwerelose, nicht als das Katastrophische – ist auch der Essay des 67-jährigen Kulturtheoretikers: eine Grand Tour aus Abzweigungen und Ausflügen, ein Streifzug durch die Geistesgeschichte, von antiker Meteorologie über mittelalterliche Gedankenexperimente bis hin zu poetologischen Reflexionen über Robert Musil und Franz Kafka, mit denen er, obwohl man es zunächst nicht vermutet, ins nervöse Klima unserer Gegenwart zielt. So wie im 18. Jahrhundert Georg Christoph Lichtenberg das assoziative Denken eben nicht als ichförmige Tätigkeit in der Form von „Ich denke“ charakterisierte, sondern als „Es denkt“, so müsste man bei Vogl eigentlich sagen: „Es schwebt.“

Zwar ist das Schweben, die „Losigkeit“, wie Vogl es nennt, immer wieder Gegenstand der Literatur- und Kulturtheorie gewesen – als Unbewusstes, als Trieb, als Zeit der Latenz in der Psychoanalyse Sigmund Freuds etwa. Doch Vogls Anspruch geht weit darüber hinaus: Für ihn ist das Schwebende nicht bloß das Unbestimmte, nicht nur ein Zwischenzustand, sondern etwas, das jeder Unterscheidung vorausgeht. Etwas, das vor der Trennung von Sinnlichkeit und Verstand liegt, vor jeder produktiven Tätigkeit durch die Einbildungskraft, um mit den Begriffen Immanuel Kants zu sprechen. Es gehört nicht nur dem Raum der Bewegung an, sondern dem des Ereignishaften, des Erscheinenden, des Plötzlichen – ein Aufscheinen ohne Ziel, ein Zustand ohne Herkunft. Für Vogl ist das Schweben gerade der Ort, an dem sich das Neue ereignet – nicht im undurchdringlichen Dickicht des Allzubekannten, nicht in den festen Strukturen, die das Alltägliche stützen, sondern in jenem Moment, in dem alles noch offen ist, noch nicht gefasst, noch nicht durchgeplant. Genau hier, in dieser Offenheit, bricht das Frische hervor – nicht als fertige Lösung, sondern als Möglichkeit, die sich erst noch aus der Bewegung heraus formt.

Gerade Johann Wolfgang von Goethe ist für Vogl hierbei von zentraler Bedeutung. Man denke nur an dessen Wolkenstudien, die er im Austausch mit dem britischen Apotheker Luke Howard als Abschluss seiner naturwissenschaftlichen Arbeiten anfertigte – und die doch weit darüber hinausgehen. Vogl zeigt, dass sich gerade hier, im Reich des Vorüberziehenden und Gestaltlosen, offenbart, warum der Naturforscher Goethe auch mit der Geschichte im Allgemeinen und der Französischen Revolution im Besonderen zeitlebens ein schwieriges Verhältnis unterhielt. Auch die Geschichte ist kein geschlossenes System, kein geordnetes Fortschreiten, sondern Ausdruck eines zentrifugalen Spiels, das sich jedem methodischen Zugriff entzieht. Vogl ist auf der Suche nach einem „Empirismus des Flüchtigen“, dem „Flimmern des Einzelfalls“ (Musil) – und es scheint, als sei diesem Inkommensurablen Goethe mit seiner „zarten Empirie“, die sich allein an die Beweglichkeit der Gegenstände hält, am nächsten gekommen.

Nun könnte man einwenden, dass die Sehnsucht nach dem Schwerelosen, nach einem unbestimmten Raum für das Mögliche allzu leicht als theoretisches Konstrukt erscheinen könnte – als luftige Nummer, als Spiel mit der Leere, das wenig zu den drängenden Problemen der Gegenwart beiträgt. Doch das Gegenteil ist der Fall: Vogl schließt mit seinen Überlegungen zum Schwebenden nahtlos an seine Arbeiten zum Finanzmarktkapitalismus an, etwa an sein 2015 erschienenes Buch Der Souveränitätseffekt. Schon damals ging es um informelle, turbulente, instabile Figuren, die sich keiner klaren Systemlogik unterwerfen lassen – Strukturen, in denen politische Entscheidungsmacht und modernes Finanzwesen ineinandergreifen. Keine fixen, verlässlichen Instanzen, sondern Dynamiken, die sich ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit entziehen, immer wieder neu und schwer fassbar, wie das Schweben, das Vogl jetzt in Meteor beschreibt. Hier, in dieser Unschärfe, diesem Oszillieren entfaltet sich die eigentliche Macht der Gegenwart – und die Chance, den eigenen Möglichkeitsmuskel zu trainieren.

So wird Vogls Poetologie des Schwebens nicht nur zu einer Theorie der Leichtigkeit, sondern auch zu einer virtuosen Kritik an einer Gesellschaft, die das Unfertige aus den Augen verloren hat und sich stattdessen in ihren eigenen Reflexen verfängt – in einem Netz aus festgefahrenen Reaktionen, die keinen Raum mehr lassen für das Unvorhersehbare. Nicht jede Frage muss eine Antwort finden, nicht jede Meinung eine Gegenmeinung, nicht jede Erregung eine Abfuhr. Stattdessen lässt sich mit ein wenig akrobatischer Schwebekunst ein Raum öffnen für das Ungewisse, für eine Ereignislust, die nicht sofort ordnet, sondern aushält, was noch keinen Ausgang kennt. Ein Raum, in dem das Nichtwissen, das Innehalten, die Grenzen des Verstehens nicht als Defizit, sondern als Potenzial erscheinen. Das müsste doch möglich sein.

Joseph Vogl: Meteor. Versuch über das Schwebende; C. H. Beck, München 2025; 144 S., 20,– €, als E-Book 14,99 €

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