News

Merz will erneute Wahlreform: Eine ganze Region schickt nur Verlierer in den Bundestag | ABC-Z

Friedrich Merz will die Reform der Reform. Das von der Ampel geänderte Wahlrecht soll in einer möglichen Koalition mit der SPD geändert werden, kündigt der CDU-Chef an. Das hängt mit 23 Wahlkreisgewinnern zusammen, die trotz Sieg ohne Mandat bleiben. Ein Ballungsraum ist besonders stark betroffen.

Friedrich Merz will die Reform der Reform. Der designierte Bundeskanzler ist fest entschlossen, das von der Ampel modifizierte Wahlrecht erneut zu ändern. Die Wahlrechtsreform hat den Bundestag um über 100 Abgeordnetensitze verkleinert und reduziert somit die Steuerzahlerkosten. Aus Sicht der Union ist die Reform aber dennoch eine „Ungerechtigkeit, die behoben werden muss“. Es handele sich um „ein einseitig gegen die Union gerichtetes Wahlrecht“, kritisiert der CDU-Chef.

Richtig ist, dass die Unionsparteien von der Wahlrechtsreform im Ergebnis dieser Bundestagswahl am stärksten betroffen sind. CDU und CSU stellen den Großteil der Verlierer unter den Siegern. Jene Wahlkreisgewinner, die, trotz errungenem Direktmandat, den Einzug in den Bundestag verpassen. Insgesamt sind 23 Politikerinnen und Politiker betroffen, unter ihnen 15 CDU- und drei CSU-Kandidaten. Außerdem müssen vier Politiker der AfD und eine Politikerin der SPD trotz Wahlkreiserfolg draußen bleiben. Für sie ist im auf 630 Sitze gedeckelten Bundestag kein Platz mehr frei.

CSU-Politiker im Clinch mit Claudia Roth

Der prominenteste Verlierer unter den Siegern ist CSU-Vorstandsmitglied Volker Ullrich, der den Wahlkreis Augsburg-Stadt zum vierten Mal in Folge gewonnen hat. Ullrich, seit mittlerweile zwölf Jahren im Bundestag, hebt sich deshalb von den anderen 22 mandatslosen Wahlkreisgewinnern ab, weil am Wahlabend ein Video entstanden ist, das den sichtlich erbosten CSU-Politiker im Streit mit der Grünen-Abgeordneten Claudia Roth zeigt. Ullrich wirft der ehemaligen Bundestagsvizepräsidentin darin vor, bezogen auf die Wahlrechtsreform, keine Demokratin zu sein. „Der Begriff der Antidemokratin ist sicherlich dem Eifer des Gefechts geschuldet und unangemessen“, nimmt Ullrich die Herabwürdigung seiner Konkurrentin im „Stern“ inzwischen zurück. „Allerdings bleibt der politische Vorwurf, dass auch sie als Teil der Ampel dieses Wahlrecht und damit auch das Ergebnis politisch zu verantworten hat, dass direkt Gewählte nicht in den Bundestag einziehen.“

Ullrich setzte sich im städtischen der zwei Augsburger Bundestagswahlkreise mit 31,1 Prozent der Stimmen deutlich vor der zweitplatzierten Claudia Roth (20,6 Prozent) durch. Der CSU-Politiker konnte seinen Vorsprung auf Roth im Vergleich zur Bundestagswahl 2021 sogar um drei Prozentpunkte vergrößern, obwohl der Wahlkreis vor der diesjährigen Wahl zu Ungunsten der CSU verkleinert wurde. Die Kleinstadt Königsbrunn, eine CSU-Hochburg, wurde aus dem Wahlkreis Augsburg-Stadt herausgelöst und dem Wahlkreis Augsburg-Land zugewiesen.

Grund für Wahlkreisverschiebungen wie diese ist die Bevölkerungsentwicklung in Deutschland. Bayern bekam zur Bundestagswahl 2025 einen zusätzlichen Wahlkreis, Sachsen-Anhalt musste einen abgeben. „In der Region Augsburg haben die Wahlkreise 25 Prozent mehr Bürger und deshalb bekommt Bayern in dieser Region einen Wahlkreis mehr“, begründete der für die Reform zuständige SPD-Vizefraktionschef Dirk Wiese Ende 2023. In dem Zusammenhang wurden einige Ortschaften und Kleinstädte aus ihren bisherigen Wahlkreisen herausgelöst und neu zugewiesen, damit alle Wahlkreise auch weiterhin etwa gleich viele Einwohner haben. Königsbrunn wurde deshalb dem Wahlkreis Augsburg-Land zugeordnet.

Sieger aus Großstädten außen vor

Das von der Ampel-Koalition 2023 beschlossene neue Wahlrecht reduziert die Zahl der Abgeordneten von zuletzt 736 (Wahl 2021) auf 630. Möglich wird dies durch den Verzicht auf Überhang- und Ausgleichsmandate.

Bislang hatte jeder erfolgreiche Wahlkreiskandidat seinen Sitz im Bundestag sicher. Gewann eine Partei mehr Direktmandate als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustanden, durfte sie diese behalten. Die anderen Parteien erhielten dafür Ausgleichsmandate. Die Folge: Der Bundestag wuchs und wuchs.

Jetzt gilt: Allein das Zweitstimmenergebnis entscheidet über die Zahl der Mandate. Beispiel: Mit ihren 37,2 Prozent stehen der CSU in Bayern 44 Mandate zu. Sie hat aber alle 47 Direktmandate im Freistaat errungen. Deshalb ziehen die drei Direktkandidaten mit den schlechtesten Erststimmenergebnissen in Bayern doch nicht in den Bundestag ein: Sebastian Brehm (Nürnberg-Nord), Claudia Küng (München-Süd) und Volker Ullrich (Augsburg-Stadt).

Auffällig ist, dass es sich bei den betroffenen CSU-Politikern ausnahmslos um die Sieger aus großstädtischen Wahlkreisen handelt. Der Grund liegt auf der Hand: In den weniger konservativ geprägten Städten ist die Konkurrenz für die CSU-Kandidaten größer und das Rennen um den Erststimmensieg entsprechend enger.

Ex-Grünenchef: „Schauen, wie man das reparieren kann“

Umkämpfte, polarisierte Wahlkreise mit mehreren aussichtsreichen Kandidaten gibt es auch in Frankfurt am Main. In der größten Stadt Hessens sind gleich beide Wahlkreisgewinner von der fehlenden Zweitstimmendeckung betroffen, weil beide Wahlkreise – Frankfurt am Main I und Frankfurt Main II – politisch besonders umkämpft sind und die Sieger-Ergebnisse zu den schlechtesten im Bundesland gehören.

Statt zwei CDU-Politikern ziehen aus Frankfurt zwei Abgeordnete der Grünen, ein SPD- und ein Linken-Politiker in den Bundestag ein. Einer von ihnen ist Omid Nouripour, bis letztes Jahr Co-Parteichef der Grünen. Nouripour hat Verständnis für den Ärger und macht sich, obwohl er selbst Teil der Ampel-Koalition war, für eine erneute Reform des Wahlrechts stark. „Ich kann meinen Leuten in Frankfurt nicht erklären, warum alle ihre Erststimmen verwirkt sind. Wir wären gut beraten, wenn wir uns als demokratische Parteien auch im neuen Bundestag zusammensetzen und schauen, wie man das reparieren kann“, sagt Nouripour.

Der Rhein-Main-Bereich rund um Frankfurt ist die mit Abstand am stärksten von der Wahlrechtsreform betroffene Region. Die Gewinner der Wahlkreise in den an Frankfurt grenzenden Städten Mainz, Darmstadt und Groß-Gerau haben den Einzug in den Bundestag ebenfalls verpasst. Auch diese Wahlkreise wurden von CDU-Politikern gewonnen, über die Liste kommen aber bloß zwei Politiker der Linken und ein SPD-Mann ins Parlament. Fünf nebeneinander liegende urbane Wahlkreise in der Rhein-Main-Region – mit insgesamt 910.000 Wählerinnen und Wählern – entsenden somit zusammengerechnet sieben Listenkandidaten von Linken, SPD und Grünen nach Berlin, um die ortseigenen Interessen zu vertreten. Dabei wurden alle fünf Wahlkreise von CDU-Politikern gewonnen.

Moderate Politiker benachteiligt?

Im Vorfeld der Bundestagswahl hatten Kritiker die Sorge geäußert, dass von der neuen Regel vor allem moderate Politiker betroffen sein könnten, die in schwierig zu gewinnenden Wahlkreisen mit viel Konkurrenz in mehrere politische Richtungen anschlussfähig bleiben müssen. Im Gegensatz dazu müssten sich Hardliner aus Partei-Hochburgen keine Sorgen machen.

Hochburgen bestimmter Parteien sind die meisten Wahlkreise in der Region Rhein-Main gewiss nicht. Und auch weiter südlich in der Rhein-Neckar-Region trifft das auf die meisten Wahlkreise nicht zu. Aber sie haben mit dem Ballungsraum Frankfurt/Mainz eines gemeinsam: Auch die Wahlkreise Ludwigshafen/Frankenthal, Mannheim, Heidelberg und Rhein-Neckar mit zusammengerechnet 666.000 Menschen an der Wahlurne entsenden keinen direkt gewählten Bundestagsabgeordneten.

In allen vier Kreisen gewannen CDU-Kandidaten, keiner von ihnen hat es ins Parlament geschafft. Auch nicht Melis Sekmen, die 2021 als Abgeordnete der Grünen in den Bundestag einzog, während der Legislaturperiode zur CDU wechselte, den Wahlkreis in Mannheim aber nur mit 24,7 Prozent der Stimmen gewann. Stattdessen nehmen drei AfD- und jeweils zwei SPD-, Grünen- und Linken-Kandidaten über Listenplätze die Themen der Region mit in den Bundestag.

Baden-Württemberg ist mit insgesamt sechs Wahlkreisen am stärksten vom reformierten Wahlrecht betroffen. Neben Mannheim, Heidelberg und Rhein-Neckar schicken auch die Wahlkreise Stuttgart II, Tübingen sowie Lörrach-Müllheim keinen Abgeordneten in die Bundeshauptstadt. In Stuttgart II, Tübingen und Lörrach-Müllheim hat es genau wie in Darmstadt nicht mal ein Listenkandidat in den Bundestag geschafft. Das sind künftig die vier Wahlkreise in Deutschland ohne einen einzigen Volksvertreter im Parlament.

SPD-Politikerin nimmt’s gelassen

An Parlamentsabgeordneten mangelt es dem Wahlkreis Bremen I dagegen nicht. Gleich vier Kandidaten – von CDU, Grünen, Linken und AfD – schafften den Sprung via Liste nach Berlin. Ausgerechnet die Wahlkreisgewinnerin geht jedoch leer aus. SPD-Politikerin Ulrike Hiller reichten 25,7 Prozent zum Sieg im Wahlkreis, aber nicht für das Ticket in die Hauptstadt. Doch Hiller hadert im Gegensatz zu den anderen Verlierern unter den Gewinnern nicht mit ihrem Schicksal. „Ich werde trotzdem nicht in den Bundestag einziehen, was für mich persönlich auch gut ist“, wird die Aufsichtsrätin des SV Werder Bremen vom Regionalmagazin „buten un binnen“ zitiert.

Ein ähnliches Szenario hat das Wahlergebnis im Kreis Flensburg-Schleswig ergeben. Hier setzte sich CDU-Politikerin Petra Nicolaisen mit 26,5 Prozent vor Robert Habeck (22,6 Prozent) durch, im Bundestag ist sie anders als ihr grüner Konkurrent aber nicht. Neben Habeck ziehen auch ein Linken-Politiker und der SSW-Abgeordnete Stefan Seidler in den Bundestag ein.

Union ohne tragfähige Lösung

Im Osten Deutschlands sind vier AfD-Politiker von den geänderten Wahlregeln betroffen. Auch hier sind urbane Wahlkreise wie Leipzig, Halle oder Rostock betroffen. Aber auch der Gewinner des Wahlkreises Oberhavel-Havelland II, Rainer Galla, hat es nicht in den Bundestag geschafft. „Das neue Wahlrecht ist eine Sauerei“, wird Galla von der „Märkischen Allgemeinen“ zitiert. Galla hat mit fast 65.000 Stimmen das drittbeste Wahlergebnis in Brandenburg eingefahren, entscheidend für die Zweitstimmendeckung sind jedoch die Prozentwerte.

Keine ausreichende Zweitstimmendeckung gab es auch für Anna-Maria Bischof. Die CDU-Kandidatin siegte im Wahlkreis Schwalm-Eder in Hessen knapp vor ihrem SPD-Konkurrenten Philipp Rottwilm. Ins Parlament zieht jedoch der unterlegene Sozialdemokrat über einen Listenplatz ein. „Es fühlt sich noch ganz surreal an“, sagte Rottwilm am Tag nach der Wahl gegenüber der „Hessischen Allgemeinen“.

Bischof, die als die bislang erste CDU-Politikerin den Wahlkreis Schwalm-Eder schwarz färben konnte, sprach von einer „undemokratischen Wahlrechtsreform“. Die Verkleinerung des Bundestages sei „notwendig“ gewesen, hätte aber nicht „zu Lasten der Demokratie“ führen dürfen, kritisierte die Generalsekretärin der hessischen CDU.

Wie ein demokratischeres Modell für die Zukunft konkret aussehen soll, das kann aber auch die Union noch nicht sagen. Ein Grabenwahlsystem, das vor allem die CSU deutlich bevorteilen würde, klingt nicht nach einer für alle Seiten tragfähigen Lösung. Ein aufgeblähter Bundestag aber ebenso wenig.

Schaltfläche "Zurück zum Anfang"