Mehr als tausend Verletzte durch explodierende Pager | ABC-Z
Die Hizbullah wurde am Dienstag kalt erwischt. Hunderte Funkrufempfänger, sogenannte Pager, ihrer Mitglieder detonierten in mehren Teilen des Landes. Laut dem libanesischen Gesundheitsminister Firass Abiad gibt es 2750 Verletzte und acht Todesopfer. Die meisten Betroffenen hätten Verletzungen „im Gesicht, an der Hand, am Bauch oder sogar an den Augen“ erlitten. Auch der iranische Botschafter in Libanon wurde laut Medienberichten leicht verletzt. Auch wenn die israelische Regierung sich nicht zu dem mutmaßlichen Cyberangriff äußerte, handelte es sich offensichtlich um eine israelische Sabotageaktion. Die Nachrichtenagentur Reuters zitierte eine Hizbullah-Quelle mit den Worten, es handle sich um die „größte Sicherheitslücke“ in der seit fast einem Jahr andauernden militärischen Konfrontation.
Im Internet wurden Videos von Geräten verbreitet, die unmittelbar nach dem Kontakt explodierten. Die Sicherheitsbehörden wiesen Einwohner in den betroffenen Gegenden an, die Straßen für Rettungsfahrzeuge frei zu halten. Es gab Aufrufe zu Blutspenden. An Krankenhäusern gab es chaotische Szenen, das Heulen der Sirenen erreichte schnell auch Stadtviertel weit jenseits der südlichen Vorstädte, in denen die Hizbullah das Sagen hat.
Israelische Zugriffe auf die Kommunikation sind schon länger ein Problem der Schiitenorganisation. Sie war bislang Ziel israelischer Nachrichtendienste, um Informationen über den Aufenthaltsort ihrer Kommandeure zu erhalten. Diese wurden dann immer wieder durch israelische Drohnenangriffe getötet. Seit Monaten schon hat die Hizbullah-Führung die Nutzung von Mobiltelefonen untersagt.
Am frühen Abend veröffentlichte die Schiitenmiliz eine Stellungnahme, in der es hieß, die zuständigen Dienste führten eine groß angelegte Sicherheitsuntersuchung durch, um die Gründe für die gleichzeitigen Explosionen in Erfahrung zu bringen. Das Volk solle sich vor Desinformationen und psychologischer Kriegsführung in Acht nehmen.
In Beirut steht bei solchen Vorfällen schnell die Frage im Raum, ob es sich um Vorboten eines voll entfesselten Krieges handeln könnte. So auch bei dem mutmaßlichen Cyberangriff, der die von Iran gelenkte Schiitenorganisation in Atem hielt. War das die Vorbereitung für einen größeren Schlag?
Netanjahu geht gegen Gallant vor
Die Zeichen standen zuletzt wieder auf Eskalation. Die israelische Luftwaffe hatte ihre Angriffe zuletzt merklich ausgeweitet. Und auch die Drohungen hatten sich verschärft. Am Dienstag wurde bekannt, dass Israel ein neues Kriegsziel ausgegeben hat: Zehntausende Menschen, die im Zuge der militärischen Konfrontation mit der Hizbullah aus dem Norden Israels vertrieben wurden, sollen in Sicherheit in ihre Häuser zurückkehren können. So teilte es das Büro von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu mit.
Mit dem Beschluss des Sicherheitskabinetts reiht sich eine Lösung an der Nordfront ein in die Kriegsziele, die sich bislang auf den Gazastreifen beschränkt haben: die Zerstörung der militärischen Fähigkeiten der Hamas, die Zerschlagung des Regierungsapparats, die Rückkehr der Geiseln und die Beseitigung zukünftiger Bedrohungen für die Sicherheit Israels. Der Vorstoß ist das jüngste von mehreren Zeichen, dass sich die Aufmerksamkeit Israels vermehrt auf die Lage an der israelisch-libanesischen Grenze richtet. Und die Führung verstärkt auch die Botschaften, dass sie sich konkret mit einer militärischen Lösung für diese Frage befasst.
Netanjahu forderte gegenüber dem amerikanischen Sondergesandten Amos Hochstein eine „radikale Veränderung“ an der Nordgrenze. Verteidigungsminister Yoav Gallant sagte, die Zeit für eine diplomatische Lösung laufe ab. „Daher bleibt nur noch der Weg einer Militäraktion.“ Washington versucht die israelische Führung davon zu überzeugen, dass ein Deal nach einer solchen nicht viel anders aussehen würde. Und dass ein Großangriff auf die Hizbullah leicht einen regionalen Krieg entfesseln könnte, der die Rückkehr der Vertriebenen in den Norden Israels auf längere Sicht unmöglich machen könnte.
Ob die Regierung von Präsident Joe Biden noch länger den in Washington geschätzten Gallant als Gesprächspartner haben wird, sollte es zu einem voll entfesselten Krieg Israels mit der Hizbullah kommen, ist nicht mehr sicher. Denn ein neues politisches Manöver Netanjahus, den Verteidigungsminister trotz eines andauernden Krieges (im Gazastreifen) und eines unmittelbar drohenden Krieges (in Libanon) abzulösen, ist nach übereinstimmenden Berichten in der israelischen Presse weit vorangeschritten. Das Verhältnis der beiden gilt aus mehreren Gründen als extrem angespannt. Gallant will, dass Netanjahu den Weg für einen Geiseldeal nicht länger versperrt. Er steht dem Regierungschef außerdem bei seinem Vorhaben im Weg, ein Urteil des Hohen Gerichtes zu umgehen, nach dem auch ultraorthodoxe Juden nicht mehr vom Wehrdienst ausgeschlossen werden können.
Warnungen und Siegesgewissheit in Israel
Indiskretionen in der israelischen Presse hatten den Eindruck erweckt, Netanjahu störe sich an Gallants zu weicher Haltung mit Blick auf die Konfrontation mit der Hizbullah. Dabei gehörte der Verteidigungsminister zu jenen, die in den ersten Tagen nach dem Hamas-Terrorangriff vom 7. Oktober auf einen Präventivschlag gegen die von Iran gelenkte Schiitenorganisation drangen. Man müsse sich zuerst dem stärkeren Feind stellen und nicht erst dann, wenn man vom Krieg gegen den schwächeren Feind ermüdet sei, lautete sein Argument. Gallant nahm später Abstand davon, weil er die Zeit nicht mehr als günstig ansah.
Der Mann, der als Ersatz gehandelt wird, ist nicht als erfahrener Militär bekannt, sondern als ein alter Rivale Netanjahus: der rechtsgerichtete Politiker Gideon Saar. Er hat sich sowohl als energischer Gegner eines Deals mit der Hamas zur Freilassung der Geiseln gezeigt als auch als Unterstützer der Ultraorthodoxen, die auf ihrer Sonderposition beharren, nicht in den Streitkräften dienen zu müssen.
In der israelischen Presse wurde Netanjahus Manöver als opportunistisch und zynisch dargestellt. Saar selbst ist für scharfe Attacken auf Netanjahu bekannt. Als Gallant im Frühjahr 2023 im Streit über die Justizreform entlassen wurde, bezeichnete Saar das als „Akt des Wahnsinns, der von einem absoluten Mangel an Urteilsvermögen zeugt“. Ein amerikanischer Regierungsmitarbeiter bezeichnete eine mögliche Ablösung Gallants zum jetzigen Zeitpunkt gegenüber dem Nachrichtenportal Axios als „verrückt“.
Unter westlichen Diplomaten besteht die Sorge, das Sicherheitsestablishment Israels könne die militärische Herausforderung durch die Hizbullah unterschätzen, weil der Abnutzungskrieg, der jetzt tobt, für das Land recht erfolgreich verlaufe. Teile davon bestätigen diese Sorge und zeigen sich siegesgewiss. Andere hingegen warnen: Ein Krieg gegen die Hizbullah könne gar nicht gewonnen werden. Israel habe nach fast einem Jahr Zermürbungskrieg seine Kriegsziele im Gazastreifen nicht erreicht. Ihnen bleibt die Hoffnung, dass Netanjahus libanesischer Vorstoß wieder nur ein taktisches Manöver ist. Am Dienstag versetzte sein Land der Hizbullah offenbar einen empfindlichen Schlag.
Wie können Pager explodieren?
Technisch ist es möglich, einen Pager, der mit einem modernen Lithium-Ionen-Akku ausgestattet ist, aus der Ferne auch ohne Sprengstoff zur Explosion zu bringen. Dafür muss die Software auf dem Gerät so manipuliert sein, dass der Akku überhitzt. Das ist beispielsweise dadurch zu erreichen, dass sich automatisch besonders energiereiche Funktionen aktivieren und die normalerweise vorhandene Abschaltautomatik deaktiviert wird. Steigt die Temperatur des Akkus auf einen bestimmten Schwellenwert – die Höhe ist abhängig vom Batterietyp –, kommt eine Kettenreaktion in Gang, von Experten als „thermisches Durchgehen“ bezeichnet, an deren Ende eine schlagartige Energiefreisetzung steht.
Die Software muss nicht einmal mit dem Gerät ausgeliefert werden, in der Regel verfügt der Hersteller über die Möglichkeit, die sogenannte Firmware nachträglich zu ändern. Ohne Wissen des Herstellers ein solches Update durchzuführen verlangt allerdings erheblichen Aufwand, der auf einen staatlichen Akteur schließen lässt. Gegen die Akku-Hypothese spricht, dass die Explosionen anscheinend alle gleichzeitig erfolgten. Zwar ist es selbst einem Informatikstudenten möglich, das Ausführen einer bestimmten Funktion an einen definierten Zeitpunkt zu koppeln, aber das thermische Durchgehen beruht auf chemischen Reaktionen innerhalb des Akkus, die kaum auf die Sekunde abzustimmen sind. Wie schwer die Folgen einer derart ausgelösten Explosion ausfallen, hängt von der Größe des Akkus ab. Moderne Pager erreichen in etwa die Speicherkapazität eines kleineren Smartphones (3600 Milliamperestunden). (jwin.)